Bundestagswahl 2021: Weltstar Merkel
Die erste deutsche Bundeskanzlerin hat auch international 16 Jahre lang Politik geprägt. Welches Bild wird in anderen Ländern von ihr gezeichnet?
W ir haben vier Journalist:innen aus den USA, aus Taiwan, Frankreich und Israel gefragt, wie sie die scheidende Bundeskanzlerin sehen. Sie alle berichten für ihre Medien aus Deutschland und begleiten Merkel schon längere Zeit
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Die Lady Liberty aus der DDR
In ihrer Antrittsrede vor dem Bundestag im November 2005 forderte die neue Kanzlerin Angela Merkel die Deutschen auf, „mehr Freiheit“ zu wagen. Zwölfmal benutzte sie diesen Begriff. Vier Jahre später benutzte sie ihn sogar achtzehn Mal, als sie in Washington vor dem US-Kongress sprach. Sie bekam starken Applaus. Sie erzählte eine Geschichte, ihre Geschichte, wie sie die Propaganda abgeschüttelt hatte, die sie in den ersten drei Lebensjahrzehnten umgab, als sie in der DDR aufwuchs. Und sie erzählte, wie sie zu den Prinzipien der westlichen liberalen Demokratie fand und diese verinnerlichte.
Für viele in den Vereinigten Staaten verkörperte diese eine deutsche Frau, die stolz auf ihre Kartoffelsuppe war und für Mode nichts übrighatte, die Essenz dessen, was es heißt, Amerikanerin zu sein. Sie verkörperte den amerikanischen Traum. Sie kam aus dem Nichts und erklomm die höchsten Höhen des Erfolgs, durch harte Arbeit und Entschlossenheit.
„Ohne Freiheit gibt es gar nichts“ – diesen berühmten Satz sagte sie 1991 zu Günter Gaus, damals war sie Ministerin. Je länger sie im Amt war, desto lauter warb sie für die Demokratie und desto mehr Amerikaner:innen begeisterten sich für sie und das, was sie sagte. Unberührt von den innenpolitischen Entscheidungen, die sie zu treffen hatte, erschien Merkel als eine lebende Lady Liberty, als ein Beispiel dafür, dass das wahr ist, in dessen Glauben wir alle erzogen wurden: Der Triumph der Demokratie über die Dunkelheit. Und anders als die Deutschen hatten wir Amerikaner:innen nie ein Problem mit Pathos.
Merkel schien das zu verstehen. Jedes Mal, wenn sie in die USA kam, ließ sie uns an ihrer Lebensgeschichte teilhaben, sie verwöhnte und schmeichelte uns damit. Als Präsident Obama ihr die höchste zivile Auszeichnung verlieh, die Presidential Medal of Freedom, sagte Merkel: „Das Verlangen nach Freiheit kann nicht lange von Mauern zurückgehalten werden.“ Und wieder war ihr der Beifall sicher.
Die persönliche Geschichte der Kanzlerin bestärkte eine Theorie, die in den High Schools in ganz Amerika gelehrt wurde: dass das Ende des Kalten Kriegs tatsächlich ein Sieg der Demokratie über den Sozialismus war, ein Sieg der Freiheit über die Tyrannei.
In ihrer Rede an der Harvard-Universität, die manche in Deutschland für ihre beste halten, kam das Wort Freiheit nur siebenmal vor. Zu dieser Zeit schien es eine reale Gefahr zu sein, dass das Land, das sie als Leuchtfeuer der Freiheit betrachtete, seine eigenen Werte verraten würde. In dieser Rede drängte die Kanzlerin die Absolventen dazu, sich gegenseitig zu respektieren und die „Geschichte, Traditionen, Religionen und Identitäten“ von anderen zu achten. Sie warnte davor, individuelle Freiheiten über das Gemeinwohl zu stellen, und sie sagte: „Demokratie ist nicht selbstverständlich, Frieden nicht und Wohlstand auch nicht.“
Der Applaus, der an diesem Nachmittag im Frühling 2019 aufbrandete, kam von Tausenden Student:innen, Professor:innen und ihren Familien. Einige deutsche Medien verspotteten diese daraufhin als Amerikas Anti-Trump-Eliten. Doch dieser Applaus schallte weit über die Grenzen von Harvard hinaus. Denn Merkels Rede erinnerte viele Amerikaner:innen daran, dass die Werte, auf die unser Land gegründet ist – Toleranz, Respekt und Demokratie –, dass diese Werte in der Welt überdauert haben. Dies von einer Frau zu hören, deren Geschichte sich wie ein Märchen liest vom demokratischen Triumph über dunkle politische Strömungen, half den Amerikaner:innen, die Zuversicht und das Vertrauen wiederzufinden, dass unsere Nation die Fähigkeit besitzt, zu gesunden und die Bedrohungen des Populismus und des Nationalismus zu überwinden.
Melissa Eddy ist Berliner Korrespondentin der New York Times
Sie verändert sich nicht
Ich arbeite mit kurzen Unterbrechungen seit fast zwei Jahrzehnten als Journalist in Berlin, ich bin mehrmals Angela Merkel begegnet und habe Hunderte von Berichten über sie geschrieben. Nun stelle ich mit Erstaunen fest, dass sie vielleicht immer die Gleiche geblieben ist, während wir uns nun in einer anderen Welt befinden.
Ihre ersten Amtshandlungen als Kanzlerin, die mich beeindruckt haben, waren die neuen Akzente in der Chinapolitik. Anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder hat sie die wirtschaftlichen Interessen nicht den eigenen Werten untergeordnet – ein Novum in den deutsch-chinesischen Beziehungen. Sie lehnte die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China ab, das nach dem Tiananmen-Massaker 1989 verhängt wurde. Sie empfing den Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der Tibeter, persönlich im Kanzleramt.
Ihre Haltung war bemerkenswert in einer Zeit, wo deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter gegenüber Peking eher leise Töne anschlugen. Gut erinnere ich mich an die öffentlich geäußerten Sorgen ihres damaligen Außenministers Steinmeier und an die Ängste deutscher Unternehmer, dass ihnen durch Merkels Chinapolitik Geschäfte entgingen. Im Grunde genommen verfolgt Angela Merkel ihren Kurs bis heute. Sie versucht, beidem gerecht zu werden – der engen wirtschaftlichen Verflechtung und den eigenen Werten. Jedes Mal, wenn sie nach China reist, trifft sie auch kritische Journalisten, Kirchenvertreter oder Menschenrechtsanwälte.
In ihrer Amtszeit erlebte sie den Aufstieg Chinas zum wirtschaftlichen Konkurrenten und zum globalen Rivalen Europas. Wie ein Systemkonflikt aussehen könnte, beobachtete ich schon 2009 auf der Frankfurter Buchmesse, als China Gastland war. Während Xi Jinping, damals noch Vizepräsident und designierter KP-Chef, als Leiter der chinesischen Delegation im Publikum saß, betonte Angela Merkel in ihrer Eröffnungsrede das freiheitliche Potenzial von Büchern, beschrieb als ehemalige DDR-Bürgerin, wie Bücher Diktatur gefährden könnten, und sie mahnte schließlich die globale Verantwortung Chinas für die politische Freiheit und Meinungsfreiheit an. Während das deutsche Publikum heftig applaudierte, blieben die chinesischen Gäste stumm.
Dabei hat Merkel nur ausgesprochen, was viele chinesische Intellektuelle seit Jahren forderten. Ich konnte damals nur mutmaßen, ob Chinas Führung wusste, worauf sie sich eingelassen hatte, als sie die Einladung nach Frankfurt am Main annahm. Von heute aus betrachtet war das eine andere Zeit. Die chinesischen Machthaber wagten damals noch, auf einer internationalen Kulturveranstaltung aufzutreten.
Die meisten Leute in Deutschland wissen gar nicht, wie nah Taiwan sein kann. Vieles in der Geschichte von Taiwan ist mit der DDR vergleichbar. Auch wir haben Ende der achtziger Jahre unsere friedliche Revolution gehabt und wir wissen heute die Freiheit zu schätzen. Wenn Merkel über den Mut der DDR-Bürger spricht, der den Mauerfall ermöglichte, oder über die Kräfte, die eine politische Wende einleiteten, fühlen wir uns angesprochen. Während der Flüchtlingskrise war man in Taiwan beeindruckt von ihrem moralischen Kompass.
Allerdings hat ihr Image inzwischen auch Kratzer bekommen. Unter Xi tritt China nach innen repressiver und nach außen machtvoller auf. In den Luftraum Taiwans dringen fast täglich chinesische Militärflugzeuge ein. China vertritt eigene Interessen offensiv und bringt seine Nachbarn gegen sich auf. Offenbar ist die KP-Führung zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Macht nur dann sichern kann, wenn sie überall auf der Welt Stärke zeigt. Merkels Umgang mit China wirkt heute überholt. Sie behandelt Peking vorsichtig, um nicht zu provozieren, sie handelt mit Bedacht und setzt vor allem auf Dialog.
China ist der größte Wirtschaftspartner Deutschlands geworden. Doch wie viel Einfluss hat Deutschland noch? Ergibt der Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog noch Sinn? Und soll es auch in Zukunft gemeinsame Regierungskonsultationen geben? Die Chinapolitik Angela Merkels hinterlässt viele Fragen.
Yu-li Lin ist Deutschlandkorrespondent der Central News Agency Taiwan
Die Frau, die alles war
Merkel und sonst gar nichts – so in etwa könnte man das Deutschlandbild vieler Franzosen zusammenfassen. Jenseits des Rheins halten sich die Kenntnisse über das Nachbarland in Grenzen. Wenn es aber eine Figur gibt, die meine Landsleute kennen, dann die der ewigen Kanzlerin. Sechzehn Jahre hatten sie Zeit, sich an sie zu gewöhnen, und der Name ließ sich einigermaßen leicht aussprechen.
„Was treibt Merkel so?“ – selbst Landsleute, die mit Politik wenig am Hut haben, fragen mich das, wenn ich in Frankreich zu Besuch bin, und sie erkundigen sich, was die Kanzlerin nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt tun wird. Frühere Umfragen ergaben, dass Merkel auch in Frankreich sehr beliebt ist, beliebter als die französischen Staatspräsidenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat, angefangen von Chirac über Sarkozy und Hollande bis zu Macron.
Leider hat sich die Berichterstattung über die deutsch-französischen Beziehungen auf diese Paare reduziert. Dabei übersieht man in Frankreich, dass die „mächtigste Frau der Welt“ über wesentlich weniger Freiräume verfügt als ein Präsident Macron. Die Zwänge der Koalition, die Bedeutung der Bundesländer und der Karlsruher Verfassungsrichter sind wenigen bekannt. Trotzdem wird Angela Merkel als die Inkarnation Deutschlands angesehen. Ihr Image in Frankreich setzt sich aus einer Mischung aus Furcht, Ablehnung und Bewunderung zusammen.
In der französischen Politik wird Deutschland häufig als Referenz benutzt. Für Rechtsextreme hat die Kanzlerin 2015 ihr Land und Europa dem Islam übergeben. Für andere wiederum hat Merkel mit der Aufnahme zahlreicher Geflüchteter die Ehre Europas gerettet. Manche französische Linke denunzieren die sozialen Missstände und die Armut in Deutschland, und während der Eurokrise geißelten sie den Egoismus einer arroganten Macht. Wieder andere beneiden den sozialen Dialog und die Kompromissbereitschaft der deutschen Gesellschaft, während das Bild Frankreichs regelmäßig von Aufständen geprägt ist.
Die Bewunderung für die Kanzlerin erklärt sich sicher auch aus der Diskrepanz der Machtsymbole beider Länder. In Paris der Prunk des Pariser Élyséepalastes, in Berlin das nüchterne Kanzleramt. Während im Élysée der französische Ersatzmonarch gebietet, regiert im Kanzleramt die uckermärkische Hausfrau.
Nun muss man sich in Frankreich auf ein neues Gesicht einstellen. Deutschlandkorrespondenten bemühen sich gerade, die potenziellen Nachfolger vorzustellen. Diese Woche waren zwei Kanzlerkandidaten, Scholz und Laschet, in Paris. Nach ihrem Treffen konnten sie in ihr Wahlkampfalbum ein Bild mit Emmanuel Macron einkleben, um ihr Profil als Weltpolitiker zu unterstreichen. Aus dem Umfeld von Annalena Baerbock hieß es, der Élyséepalast eigne sich für den Wahlkampf nicht. Ganz gleich, wer Nachfolger:in wird, mit einem Bruch in den bilateralen Beziehungen ist nicht zu rechnen. Das Gleiche gilt auch bei den zahlreichen Koalitionen, die nach dem 26. September denkbar sind.
Pascal Thibaut ist Korrespondent für Radio France Internationale in Berlin
Cool wie Billie Eilish
Es gibt zwei berühmte Personen, deren Namen genannt werden, wenn in den vergangenen fünfzehn Jahren diskutiert wurde, warum so viele Israelis nach Berlin auswandern: Joachim Löw und Angela Merkel.
Löw kreierte den neuen deutschen Fußball. Er verwandelte einen langweiligen, maschinenhaften, auf Leistung und Ergebnis getrimmten Fußball in einen multikulturellen, vergnüglichen, angriffslustigen Fußball. Löws Fußball und die kosmopolitische Atmosphäre der WM 2006 brachte den Israelis und der ganzen Welt das neue Deutschland näher.
Merkel, die ein Jahr vor der WM Kanzlerin wurde, hatte eine noch größere Herausforderung zu bewältigen, nämlich Deutschlands beherrschende Stellung zu erhalten und der Welt die deutsche Politik zu präsentieren, und zwar täglich. Was man dabei zu sehen bekam, war ziemlich spektakulär.
Merkels Feminismus war eine Tour de Force. Sie begründete keine Moden und niemand sprach über ihr Make-up. Merkel war nicht hundert Prozent feminin, aber sie war absolut zufrieden damit, wer sie als Frau war. Sie strahlte ein Maß an Selbstbewusstsein aus, das nichts mit irgendwelchen äußerlichen Zutaten zu tun hatte. Ihre Botschaft dabei: Ich bin eine Frau und wir werden da kein großes Ding draus machen. Ich weiß das von meiner dreizehnjährigen Tochter, die mir sagte, sie möchte erst Merkel sein und dann noch Billie Eilish.
Dass Merkel es geschafft hat, sich diese feministische Aura zu erhalten, während sie in einem Ozean voller männlicher Haie schwamm, ist außergewöhnlich. Außergewöhnlich ist auch die Tatsache, dass sie mehrsprachig ist. Sie konnte fließend mit Hardlinern wie Putin sprechen und sah ihnen dabei in die Augen. Und Merkel war auch ein harter Großstadtcowboy. Sie räumte alle aus dem Weg, die ihre Politik und ihren Anspruch auf Führung bedrohten. Heute liest man trotzdem selten etwas darüber, wie sie jemanden ausgeschaltet hat und was sie politisch wirklich plant.
Das liegt daran, dass Merkel eine seltene Fähigkeit besitzt: Sie hat es in der Welt der Egos und des Zynismus geschafft, allen zu vermitteln, dass sie anders ist, dass sie nur aus einem Grund hier ist, dem einzig richtigen Grund: Sie wurde von der Bevölkerung gewählt und dieser will sie dienen.
Für uns Israelis war sie zudem das Gegenteil unseres langjährigen Ministerpräsidenten Benjamin „Bibi“ Netanjahu. Sie war eine Anti-Bibi. Sie war nicht in Skandale verwickelt, wurde nie mit Korruption in Verbindung gebracht und ging nicht mit Millionären zum Abendessen. Sie war, ohne dass dies ihr Anspruch gewesen wäre, die Über-Politikerin in einer Welt voller Möchtegern-Politiker:innen.
Deutschland, jahrelang ein Ziel für Hass und Abscheu, besonders in Israel, verwandelte sich in ein Objekt des Neids. So führt man ein Land! Ohne eine Kugel zu verschießen, übernahm Deutschland Europa, und es brachte Juden dazu, dass sie zurückkamen. Es brauchte schon eine historische Führung wie die von Merkel, um diese beiden Ziele zu erreichen.
Leider haben sowohl Löw als auch Merkel ihre Instinkte verlassen. Sie waren zu lange im Amt. Löws Denkmal hat nach den letzten Weltmeisterschaften Risse bekommen. Trotzdem wird niemand die WM 2014 vergessen. Angela Merkel blieb auch zu lange. Außerdem ging sie zu weit mit ihrer Flüchtlingspolitik, sie gab den Rechtsextremen Aufrieb, und als eine Konsequenz daraus mussten Jüd:innen wieder ihre Identität verbergen. Nichts davon aber überschattet ihre sechzehnjährige Kanzlerschaft und die Verwandlung Deutschlands.
Zurück lässt Merkel eine „Titanic“. Vielleicht ist sie sogar das luxuriöseste Schiff der Welt. Doch wir beginnen, ein Rumpeln zu hören. Sie wird große Fußstapfen hinterlassen und niemand ihrer potenziellen Nachfolger:innen scheint die Leere ausfüllen zu können. Wir sehen noch keinen Eisberg. Wir können noch gar nichts sehen. Wir hören nur die Wettervorhersagen und sie künden von Nebel.
Ze’ev Avrahami ist der Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung Jediot Achronot
Übersetzung: T. Gerlach und D. Schulz
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