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Afghanistan reißt in der EU alte Wunden auf

Mitgliedsländer streiten über Aufnahme von Geflüchteten. Wien will Afghanen abschieben

Aus Brüssel Eric Bonse

Als die Taliban in Kabul einmarschierten, glänzte die EU durch Abwesenheit. Deutschland und andere Staaten organisierten die Flucht ihrer Bürger und Ortskräfte im Alleingang, eine europäische Koordinierung fehlte.

Auch jetzt, da es um die Aufarbeitung der afghanischen „Katastrophe“ (so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell) geht, zeichnet sich keine gemeinsame EU-Linie ab. Dies haben zwei Krisensitzungen in Brüssel gezeigt.

Erst tagten die Außenminister – ohne Ergebnis. Einig war man sich nur, dass die Region stabilisiert und Fluchtmigration verhindert werden müsse. Nach der Evakuierung genieße dies höchste Priorität, sagte Borrell.

Um die Flüchtlinge ging es auch bei einer Videokonferenz der Innenminister. Österreichs Amtsinhaber Karl Nehammer erklärte, dass sein Land keine Afghanen aufnehmen wolle. Abschiebungen müssten weiter möglich sein.

Österreich werde sich auf EU-Ebene darum bemühen, dass „Abschiebezentren“ in Nachbarländern Afghanistans eingerichtet würden, um aus Europa abgeschobene Afghanen unterzubringen, erklärte der konservative ÖVP-Politiker.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn widersprach. „Wir brauchen Quoten für Flüchtlinge aus Afghanistan, die auf legalem Weg nach Europa kommen können“, sagte Asselborn. Den Zugang zu blockieren, sei Populismus pur.

Wieder andere Akzente setzte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Sie fordert, legale und sichere Fluchtrouten aus Afghanistan nach Europa zu schaffen. „Die Lage in Afghanistan ist eindeutig nicht sicher und wird es auch noch einige Zeit nicht sein“, so Johansson.

Sichere Fluchtwege und Quoten – oder Abschiebung und Auffanglager: Die Debatte erinnert an 2015 und 2016, als die EU mit den Folgen des Exodus aus Syrien zu kämpfen hatte. „2015 darf sich nicht wiederholen“ – diesen Spruch aus dem deutschen Wahlkampf 2021 hatten schon damals viele EU-Politiker in Brüssel auf den Lippen.

Doch bis heute haben sie keine Lösung gefunden. Ein von der EU-Kommission vorgeschlagener Asyl- und Migrationspakt fand keine Mehrheit, nicht einmal der deutsche EU-Vorsitz Ende 2020 konnte die Blockade lösen. Die Afghanistan-Krise hat alte Wunden aufgerissen und neue, vor allem innenpolitisch motivierte Ängste geschürt. Deshalb sagt und macht nun jeder, was er will.

Am weitesten lehnte sich Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron aus dem Fenster. „Afghanistan darf nicht wieder zu dem Zufluchtsort des Terrorismus werden“, erklärte er. Außerdem müsse man „ungesteuerte Flüchtlingsströme Richtung Europa“ verhindern.

Macron will sich mit Kanzlerin Angela Merkel abstimmen. Doch die hält sich bedeckt – genau wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Zum Debakel in Afghanistan verlor die Chefin der „geopolitischen Kommission“ kein Wort. Bisher hatte die glühende Transatlantikerin auf US-Präsident Joe Biden gesetzt. Nun muss sie die Scherben zusammenkehren, die Biden hinterlässt – in Kabul und in Brüssel.

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