Blitzoffensive in Afghanistan: Taliban stehen vor Kabul
Die Taliban gewinnen an Land. Die Aufständischen kontrollieren jetzt 15 der 34 Provinzen. Auch auf die Hauptstadt rücken sie vor.
Von großem Gewicht war zudem, dass sich am Freitag einer der wichtigsten Anti-Taliban-Warlords, Ismail Chan im westafghanischen Herat, den Taliban „anschloss“, wie diese behaupteten, oder ergeben musste, was wahrscheinlicher ist. Das US-Militär hatte zuletzt noch überlegt, auch an der Regierung von Präsident Aschraf Ghani vorbei Milizen wie die von Ismail Chan zu bewaffnen.
Doch die Zeit hat diese Idee schnell überholt. Ein weiterer Warlord, Atta Muhammad, der für sich die Führerschaft über die Tadschiken und deren wichtigste Partei Dschamiat-i Islami in Anspruch nimmt, ist seit Tagen abgetaucht.
Wie in vielen Landesteilen gab es auch in der Provinz Logar nicht mehr viel zu erobern, denn die Taliban beherrschen dort seit Jahren fast alle ländlichen Gebiete. Die Kontrolle über Logar gehört zur „Einschließungsstrategie der Taliban für Kabul für den Fall des Abzugs der westlichen Truppen“, wie ein hoher früherer Regierungsbeamter in Kabul der taz bereits im Juli 2020 sagte.
Zur Schwäche der Regierung trugen in Logar die Inkompetenz hoher Offizieller, die mangelhafte Koordination der bewaffneten Regierungskräfte, Ablenkung durch den Kampf um Kontrolle örtlicher Schmuggelrouten für Drogen und Chromerz sowie Drangsalierung der örtlichen Bevölkerung durch Sicherheitskräfte bei – bei resilienten örtlichen Talibanstrukturen.
Kabul ist eingezingelt
Auch im Südwesten der Hauptstadt sieht die Lage in der Provinz Maidan Wardak nicht anders aus, außer dass die Provinzhauptstadt Maidanschahr formal noch unter Regierungskontrolle ist. Im Osten eroberten die Taliban schon Mitte Juli große Teile der Provinz Laghman. Von dort aus können sie die Verbindungsstraße von Kabul über Dschalalabad nach Pakistan bedrohen. Neben dem einstigen Bundeswehrstandort Masar-i-Scharif und der Hauptstadt Kabul ist Dschalalabad die einzige Großstadt, die noch in den Händen der Regierung ist.
Im Norden Kabuls beherrschen die Taliban das Ghorband-Tal, eine wichtige Verbindungsstraße ins zentralafghanische Hasaradschat, wo die schiitische Bevölkerungsgruppe der Hasaras sich wegen mehrerer Talibanmassaker vor 2001 besonders vor deren Rückkehr fürchtet. Im Juli richteten sie laut afghanischer Menschenrechtskommission im Hasara-Distrikt Malestan mindestens 19 gefangene Regierungssoldaten sowie eine unbekannte Zahl unbeteiligter Zivilist:innen hin.
In Teilen Hasaradschats gelang es den Hasaras mit selbst aufgestellten Milizen und kleinen Armee-Kontingenten zuletzt noch, Talibanvorstöße abzuwehren. Ein Hasara-Vertreter schrieb an eine deutsche Organisation, die dort Schulprojekte unterstützt: „Wo sollen wir hin? Auf dem Weg nach Europa werden wir von Schleppern um unser letztes Geld gebracht. Dort angekommen, lassen sie uns vor den Toren verrecken. Besser ist also, zu bleiben und zu Hause zu sterben“.
Die Taliban verfügen auch über Positionen in stadtnahen Gebieten um Kabul. Sie ziehen also ihren Ring um die Stadt zu. Selbst in der Stadt sind sie präsent. In Vororten verteilten sie im Frühjahr Flugblätter, man möge sich nicht fürchten.
Gleichzeitig forderten sie Mitglieder der Regierungsstreitkräfte auf, entweder diese oder ihre Dörfer zu verlassen, ansonsten drohe der Tod. Dem verliehen sie mit Attentaten Nachdruck. Gemeindeältesten untersagten sie, den Distrikt zu verlassen, um Regierungskontakte zu unterbinden. Bewohner Kabuls berichteten der taz von Späherpatrouillen im ebenfalls größtenteils von Hasaras bewohnten Westen Kabuls.
Evakuierung von Nicht-Afghan:innen
Derweil evakuieren westliche Botschaften ihre nichtafghanischen Mitarbeiter:innen. Die Regierungen in Washington und London teilten das offiziell mit. Die USA senden 3.000 zusätzliche Soldat:innen, die den Flughafen von Kabul dafür sichern sollen.
Die deutsche Bundesregierung scheint ihre ohnehin fadenscheinigen Bemühungen um ein Ausfliegen ihrer afghanischen Ortskräfte weitgehend eingestellt zu haben. Auf eine Grünen-Anfrage antwortete das Innenministerium, von der US-Aktion habe man Kenntnis, arbeite aber „unabhängig davon“. Dabei fehlen der Bundesregierung dafür die Kapazitäten. Schon die letzten Bundeswehrsoldaten wurden im Juni teilweise mit US-Maschinen evakuiert.
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