: „Gott ist mit uns, wie wir sind“
AUS SREBRENICA ERICH RATHFELDER
„Die Mörder sind unter uns“, hieß ein Film in Deutschland 1946. Dieser Titel kommt einem immer wieder in den Sinn auf der Fahrt durch blühende Wiesen in das von Wäldern umrahmte Tal, das nach Srebrenica führt. Die Vorstellung, an jedem dieser Orte hier, am Waldrand dort, hinter jener Scheune, in diesem Bachlauf, könnten vor zehn Jahren einige der 7.800 Menschen ermordet worden sein, lässt einem nach wie vor Schauder über den Rücken rieseln.
Für die einheimische serbische Bevölkerung sind dies bittere Tage. Auf ihr lastet jetzt die Wahrheit. Denn eine Regierungskommission der Republika Srpska, der serbischen Teilrepublik in Bosnien, hat das jahrelang offiziell geleugnete Massaker an den Bosniaken nicht nur bestätigt, sondern nun auch 892 Namen genannt – die Namen der Leute, die nach ihren Untersuchungen an dem Massaker unmittelbar beteiligt waren. Kurz vor dem mit großer internationaler Anteilnahme begangenen 10. Jahrestag am 11. Juli sind sogar serbisch-bosnische Spezialkräfte und EU-Polizisten in die Region gekommen, um Mittäter zu verhaften. 11 dieser Leute wurden bisher festgenommen.
Doch noch zeigt sich Trotz. In dem Örtchen Kravica ist ein 12 Meter hohes Kreuz zu sehen, das an die getöteten Serben erinnern soll. Wenige Meter von dem Ort entfernt, wo serbische Soldaten am 13. Juli 1995 in den Ställen einer Kooperative hunderte von Bosniaken ermordet haben. An den Wänden sind noch die Einschusslöcher zu sehen. Und Dragan, der Sprecher der serbischen Veteranen vor Ort, behauptet nach wie vor, 3.200 Serben seien von den Muslimen, den Bosniaken, ermordet worden. „Gott ist mit uns, wie wir sind“, steht auf einer Hauswand. Das Graffito ist ganz frisch und in kyrillischer Schrift.
Zehn Jahre nach der serbischen Eroberung macht Srebrenica nach außen hin einen normalen Eindruck. Zwar sieht man ab und an noch Einschusslöcher in den Wänden, doch die meisten Häuser sind wieder aufgebaut. Neonleuchten zeigen, dass es wieder Elektrizität gibt, und der Rasensprenger in einem Vorgarten, dass die Wasserleitungen funktionieren. Geschäfte haben geöffnet, und in den Cafés sitzen Limonade trinkende Jugendliche. Die Glasfassade des neu errichteten Busbahnhofs spiegelt das Sonnenlicht. Manche der Passanten lächeln den Fremden sogar zu, die früher allgegenwärtigen feindseligen Blicke sind seltener geworden.
„Viele der Häuser aber stehen leer“, sagt Dean, ein 26-jähriger Serbe, der seit einiger Zeit wieder in Srebrenica wohnt. Während des Krieges war seine Familie nach Serbien geflohen. Dean fühlt sich durch die Ereignisse von damals nicht belastet. Nationalismus interessiert ihn nicht. Er ist ein moderner, aufgeschlossener junger Typ, der in jedes Café in Belgrad passen könnte. Ihn bedrückt, dass es keine Arbeit und damit keine Zukunft gibt. „Das hier ist eine Phantomstadt, eine Kulisse, nichts anderes.“ Lang, sagt er, halte er es nicht mehr aus. Er will mit seiner holländischen Freundin in die Niederlande ziehen.
Srebrenica leert sich ein zweites Mal. Die serbischen Flüchtlinge, die nach dem Krieg aus der Region um Sarajevo zu tausenden in die damals fast verwaiste Stadt umgesiedelt wurden, sagen Srebrenica wieder Adieu. Nur noch 3.000 Einwohner lebten in der Stadt, sagt Dajib Selimović, der bosniakische Vizepolizeichef, zumeist seien es alteingesessene Serben. Die Bosniaken, vor dem Krieg die Mehrheitsbevölkerung, zögen zwar in die umliegenden Dörfer, doch in die Stadt selbst nur schleppend zurück.
Doch Abdullah Purković ist zurück. Seit 2001. Er hat überlebt. Er schaffte es, ins nahe Tuzla zu fliehen. Als er Familie und Freunden vor vier Jahren eröffnete, dass er in Srebrenica eine Pension mit Restaurant aufmachen wolle, erklärten die ihn für verrückt, erzählt er. Doch ihr Sträuben nutzte nichts. Er setzte sich gegen seine Frau und seine zwei Töchter durch, er wollte sich nicht auf ewig aus seiner Heimatstadt vertreiben lassen.
Das Restaurant hat eine gute Küche, Abdullah war vor dem Krieg „staatlich anerkannter“ Ausbilder für Köche. „Am Anfang“, so der untersetzte 50-Jährige, „wollte kein Serbe bei mir einen Job annehmen, beim Aufbau helfen oder in der Küche zur Hand gehen.“ Und seine ehemaligen Schüler, die jetzt wieder bei ihm arbeiten wollten, wurden von den serbischen Nachbarn „Verräter“ genannt, die dem „Türken“ helfen wollten. Doch das sei jetzt Schnee von gestern, sagt Abdullah. Die Anfeindungen hätten aufgehört. Jetzt lebten auch wieder mehr Muslime hier, vor allem Frauen. Zwar gingen sich die beiden Gemeinschaften aus dem Weg, als Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei SDP am Ort bemühe er sich aber um Verständigung: „Wir sind ja eine multinationale Partei.“
In einer der Seitengassen drängt sich ein grobschlächtiger Mann vor, das verschwitzte Unterhemd reicht kaum über seinen wallenden Bauch. „Alle Verbrechen, die an Muslimen und die an uns, gehören aufgedeckt!“, ruft der Besitzer eines Geschäftshauses. „Schuld an allem sind die Nationalisten.“ In der Zeit des Sozialismus, bei Tito, sei alles besser gewesen. „Die Mehrheit der Serben wird das nächste Mal für die SDP oder die serbischen Sozialdemokraten um Milorad Dodik stimmen“, ist er sich sicher. Das sind fast revolutionäre Töne in einer Stadt, die vor kurzem noch unter der Fuchtel der Extremisten stand. Öffentlich so aufzutreten, hätte sich vor Jahresfrist wohl kaum jemand getraut.
Hat jetzt also doch das große Umdenken in der serbischen Bevölkerung begonnen? Immerhin hat sich die „große“ Politik gewandelt. Denn trotz aller Widerstände der nationalistischen Parteien wird der Präsident Serbiens, der aus Sarajevo stammende Boris Tadić, zusammen mit Außenminister Vuk Drasković, an den Feierlichkeiten am 11. Juli teilnehmen. Die Frauen von Srebrenica kritisierten die Teilnahme nur anfangs. Solange die Hauptverantwortlichen für die Massaker in Bosnien, Radovan Karadžić und Ratko Mladić, von serbischen Behörden geschützt würden, sollte er nicht kommen, erklärten sie. Inzwischen hat Hadžidža Mehmedović, die treibende Kraft hinter den Frauen, ihre Meinung geändert.
Vor ihrem Haus bewegt es alle Besucher, die beiden Bäume zu sehen, die ihre vor zehn Jahren als Halbwüchsige ermordeten Jungen gepflanzt haben. Doch Hadžidža Mehmedović ist nicht da. Freundliche Nachbarn geben Auskunft. Violetta gießt gerade Blumen. Ihr Mann Gordan lädt zu einem kühlen Drink ein. Seit zehn Jahren leben die beiden in diesem Haus eines vertriebenen Bosniaken, haben jetzt zwei kleine Buben, einen Hund und viele Obstbäume. Gordan brennt Pflaumenschnaps, den Slivovica, den er in 10-Liter-Flaschen verkauft. „Reguläre Arbeit gibt es sonst keine“, sagt der 34-Jährige.
Nach ein paar Gläsern erzählt Gordan seine Geschichte. Er stammt aus Ilias bei Sarajevo. Er hat Heimweh, aber er kann nicht mehr zurück. 1992, bei den Kämpfen um Ilias, war er nämlich die rechte Hand von Ratko Mladić. So jedenfalls stellt er sich dar. Ein junger Kämpfer damals, mit langen Haaren und einem großen Kreuz um den Hals, den Insignien der radikalen serbischen Tschetniks. „Die Serben waren jahrhundertelang Opfer der Geschichte, wir wollten das verändern“, sagt er.
Obwohl Gordan sich heute rasiert hat und die Haare geschnitten sind, verteidigt er trotzig die alte Politik. „Es war die Rache des Volkes, des narod, an den Muslimen Bosniens für die Schmach der türkischen Eroberungen.“ Weiß er denn überhaupt, was er da sagt? Dass alle Serben Mörder sind. Als ob es kein UN-Tribunal gäbe, dass Karadžić und Mladić als Hauptverantwortliche anklagt. Nein, das Volk als Ganzes ist verantwortlich, alle haben es gemacht, beharrt er. Und sagt: „Ratko Mladić wird sich niemals stellen.“
Nur ein paar Kilometer entfernt liegt das Gräberfeld in Potocari. An der Gedenkstätte werden heute unter dem Beisein von tausenden von Trauernden aus aller Welt rund 600 Beerdigungen stattfinden. Dann werden auf dem weitläufigen Gelände 2.070 Menschen, vor allem Männer aus Srebrenica, ihre letzte Ruhe gefunden haben. Und die Angehörigen werden endlich würdig Abschied nehmen können.
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