Tanz am Seil: Fenstersturz der grauen Herren
Mit dem artistischen Tanztheater „Timebank“ beginnt ein Summer of Performance im Revier Südost in den Ruinen einer alten Brauerei.
Über alle fünf Stockwerke des Backsteingebäudes wächst das Graffiti von Alaniz: ein junger Mensch, das Gesicht maskiert, eine Rose in der Hand, eine Malerrolle über der Schulter. Der Streetart-Künstler selbst muss so eine Rolle mit sehr, sehr langer Stange benutzt haben, um die hohe Figur zu malen, in Grau und Weiß, wie auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie.
Sie wird zu einem Wächter des Geländes, einer großen Landschaft aus verfallenden Backsteinburgen und an die Seite geräumten Schuttbergen. 26 Jahre lang stand die ehemalige Bärenquell-Brauerei an der Schnellerstraße in Schöneweide leer und verfiel, teils illegal bewohnt, teils von der Graffiti-Szene genutzt. Sie hatte es zuletzt als lost place und letzte der großen Brauerei-Ruinen in Berlin zu einiger Berühmtheit gebracht. Jetzt erfährt sie als Revier Südost eine kulturelle Wiederbelebung.
Das Team, das hier im Juni/Juli einen Biergarten, einen Markt und einen Club eröffnet hat, kommt von dem Club Griessmühle, der in Neukölln aufhören musste, als ihr Mietvertrag letzten Februar nicht verlängert wurde. Mitte Juni durfte an der Schnellerstraße im Rahmen eines Pilotprojekts „Open Air“ wieder getanzt werden, noch mit Maske.
Das Team von Revier Südost hat große Pläne. Das Gelände der Brauerei gehört einem Investor, Ofer Hava, der die Sanierung der Altbauten plant und das Revier Südost als Partner für Kulturprojekte ins Boot genommen hat. Beim Rundgang über das weitläufige Gelände zeigt Michaela Krüger, die für das Revier Südost die Pressearbeit macht, wo ein Restaurant entstehen soll, wo ein Open-Air-Kino, eine Bar für Spiel und Sport, eine Skaterhalle, ein Hostel, eine Galerie, eine Markthalle für den Winter. Und man sieht doch erst mal nur Ruinen ohne Fenster, aus deren Fassaden und Dächern die Bäume wachsen.
Aus der Horizontalen gekippt
Zweifellos eine großartige Kulisse und als solche wird sie genutzt mit dem Summer of Performance at Revier Südost. Den Beginn machte die Berliner Gruppe Grotest Maru, die Projekte für den öffentlichen Raum entwickelt, mit „Timebank“. Das ist ein artistisches Stück Tanztheater, das die Horizontale in die Vertikale kippt. Die sechs Performer und Performerinnen nutzen die Technik von Baukletterern, um sich aus den Fenstern abzuseilen und hoch in der Luft über die Fassade zu tanzen.
„Timebank“ im Revier Südost, Schnellerstraße 137 in 12439 Berlin, wieder am 9. 7., 21 Uhr, am 10. 7., 17 + 21 Uhr, am 11. 7., 17 Uhr. Mehr Info zum Summer of Performance www.reviersuedost.de
Dort sitzen sie dann in der Höhe, lesen Zeitung, zerreißen Akten, telefonieren, als ob das alles noch ein Arbeitstag in den dahinterliegenden Büros wäre. Sie stoßen sich aber auch mit den Füßen von der Fassade ab und drehen sich in großen Schwüngen, ein angefangener Sprung ins Leere, ein Sturz ins Ungewisse, ein Wirbeln durch unbekannten Raum, ein Spiel mit der Bändigung von Gefahren.
Die Gesichter der Spielenden sind dabei aschfahl geschminkt, grau ihre Anzüge, schwarz die Aktenkoffer, straff die Frisuren. Dem Grotesken und Abenteuerlichen geht die Fiktion eines streng getakteten Lebens, in bürokratischer Enge, in dem kein Platz für individuelle Entfaltung ist, voraus.
Auf den zerbröselnden Leib geschrieben?
Auf dem Gelände dieser Ruine, deren Verfall zu den Verlusten der Nachwendezeit gehört, denkt man dabei möglicherweise an die Abwicklung von DDR-Betrieben in den 1990er Jahren, auch diese Brauerei schloss 1994. Das Stück scheint den Industriekathedralen auf ihren zerbröselnden Leib geschrieben. Allein, es entstand, wie die Regisseurin und künstlerische Direktorin von Grotest Maru, Ursula Maria Berzborn, erzählt, schon vor zehn Jahren, zur Zeit der Finanzkrise.
Es ist weit getourt, über Straßentheaterfestivals, und erhält an jedem öffentlichen Ort ortsspezifische Lesarten. Als sie in Görlitz ein Gebäude bespielten, in dem auch die Stasi gearbeitet hatte, waren die aus Aktenordnern gerissenen Seiten und das geschredderte Papier, das neben den Tänzer aus den Fenstern fliegt, als das Beseitigen verfänglicher Unterlagen zu lesen.
Gerne hätte die Company Gortest Maru „Timebank“ schon früher in Berlin gezeigt, aber eine Genehmigung für öffentliche Plätze haben sie nicht bekommen, erzählt Berzborn. Deshalb freuten sie sich über die Anfrage von Ofer Hava und Revier Südost, hier zu spielen. Das Gelände können sie nutzen, ein Honorar erhalten sie nicht, da sind sie auf die Eintrittsgelder angewiesen. Am Samstag waren noch viele der Liegestühle, aus denen man ihr Spektakel verfolgt, leer.
Ende Juli kommt eine zweite Performance von Grotest Maru, diesmal eine Premiere, „Schwarm“, und dazwischen werden zwei Stücke von Luftartisten aufgeführt, mit Seil, Trapez, Tuch, Bungee Dance und Hairhang.
In „Timebank“ bringen die Artisten zwei große Zeiger einer Uhr an der Fassade an, der Takt eines Metronoms läutet das Stück ein. Die Taktung der Arbeitszeit als Korsett grundiert das Stück zwar – aber sie wird zu einer minimalistischen Tonspur, die möglicherweise eine Metamorphose zu etwas Neuem begleitet.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!