Gerichtsdrama über Abschiebung: Das Gesetz und die Realität
Im tak Theater in Berlin ist ein großartiges Stück über Abschiebung entstanden, das Entscheidungsspielräume im deutschen Asylrecht ausleuchtet.
Vorsichtig füllt die Verwaltungsrichterin Teeblätter in eine Papiertüte. Vor wenigen Minuten hatte sie in der Teestube ein informelles Treffen mit dem Rechtsanwalt eines Klägers. Ein Afghane, der gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) klagt. Während des kurzen Gespräches mit dem Anwalt wurde sie von der Gerichtspräsidentin telefonisch daran erinnert, bei dem nächsten Urteil die inoffiziell festglegten Aufnahmequoten für die verschiedenen Regionen Afghanistans zu beachten.
Das ist die Ausgangssituation von „geRecht“ im kleinen Theater Aufbau Kreuzberg, das sich mit der Ambivalenz des deutschen Asylrechts auseinandersetzt. Folgerichtig liegt der inhaltliche Fokus auf der Figur der Verwaltungsrichterin, die der Beeinflussung mehrerer Seiten ausgesetzt eine Entscheidung treffen bzw. zu einem Urteil kommen muss.
Das transnationale Team von suite42 um die Regisseurin Lydia Ziemke hat im Vorfeld gründlich recherchiert und das Gespräch mit JuristInnen gesucht. Viel Information wird so gestreut bezüglich der juristischen Spitzfindigkeiten der hiesigen Asylgesetzgebung. Die Erzählung (von Mehdi Moradpour, Matin Soofipour Omam und Peca Stefan gemeinsam entwickelt) um einen afghanischen Asylbewerber, eine deutsche Richterin und ihren Sohn, der als Fotograf in Kriegsgebieten unterwegs ist, ist holzschnittartig aufgebaut.
Corinna Harfouch aber schafft es, die Figur der Richterin mit Nuancen auszustatten, die neben der souveränen Juristin auch die auf sich selbst zurückgeworfene Erinnernde – die von ihrer eigenen Flucht aus der DDR eingeholt wird – sowie die Mutter, die sich um ihren Sohn sorgt, glaubwürdig machen.
Vor allem ästhetisch ist diese Filminstallation, die ohne die Pandemie eine Theaterinszenierung geworden wäre, ein Ereignis. So verteilt der Videokünstler Daniel Hengst die verschiedenen Filmsequenzen auf mehrere transparente Stoffbahnen. Daraus ergeben sich je nach Bespielung unterschiedliche Binnenräume im Saal. Zusätzlich entsteht eine spannende Dreidimensionalität. So pflanzen sich die Videoeinstellungen fort – szenisch parallel zu den Schritten der durchs Leipziger Verwaltungsgericht eilenden Richterin.
„GeRecht“ von Mehdi Moradpour, Matin Soofipour Omam, Peca Stefan und der Regisseurin Lydia Ziemke wird im tak in Berlin Kreuzberg wieder aufgenommen vom 8. – 12. September und im Oktober/November 2021.Infos unter https://tak-berlin.de/
Probiert man unternehmungslustig unterschiedliche Blickwinkel aus in dieser begehbaren Installation, dann ergeben sich interessante Effekte: so ist immer wieder im Vordergrund eine Einstellung, im Hintergrund quasi durchschimmernd noch eine bzw. sogar zwei zu sehen. Was ästhetisch und inhaltlich sehr anregend sein kann.
So blickt man z. B. durch säuberlich geordnete Gerichtsakten, die von der Gerichtsreferendarin nach Hinweisen zum Kläger durchforstet werden, auf die Richterin in ihrem Büro, die erfolglos versucht, ihren Sohn telefonisch zu erreichen.
Komplexität der Übersetzung
Die Darstellung der Gerichtsdolmetscherin ist ein Balanceakt, der gelingt. Dadurch, dass Anke Retzlaffs Dolmetscherin die Worte der Richterin in einfaches Deutsch übersetzt und so eine Nuancenverschiebung stattfindet, aus der sich in der Folge immer wieder Missverständnisse ergeben, wird die extreme Komplexität von Sprachübertragung, u. a. wegen der unterschiedlichen kulturellen Codes, speziell in diesem Kontext nachvollziehbar.
Die Geschichte des afghanischen Asylbewerbers (Omar El-Saeidi) bleibt ein Rätsel. Ist er wirklich schwul und hat er für die Deutschen gearbeitet? Oder benutzt er diese Geschichte, damit sein Fall zu den hier geschaffenen Paragrafen passt? In einer Traumsequenz erzählt der Asylbewerber der Richterin alle möglichen Geschichten, die seine sein könnten. Und sein Anwalt (Roland Bonjour) sagt irgendwann entnervt zur Richterin: „Wann werden Sie endlich das Gesetz an die Realität anpassen?“
Harfouchs Richterin flüchtet sich mental in die Welt der Ameisen, denn da hat aus ihrer Sicht alles seine richtige Ordnung. Jede Ameise hat ihre Funktion und stirbt einsam, um dem Staat nicht zur Last zu fallen. Auf den Leinwänden wuseln dann kurzzeitig kunstvoll Ameisen und geben dem ganzen Raum eine unwirkliche Aura. Gegenpol dazu ist der rieselnde Sand, der immer wieder die Leinwände herunterflimmert: Afghanistan ist zum Greifen nah.
Weil wir es hier mit Theater zu tun haben, spricht die Richterin zwei unterschiedliche Urteile ins Diktiergerät. Bleiberecht oder Abschiebung, beides ist möglich bei ein und demselben Fall. Realität in deutschen Verwaltungsgerichten. Suite42 bleibt dran an dieser Wirklichkeit und plant zwei weitere Folgen von „geRecht“. Unwillkürlich denkt man an „Theater als moralische Anstalt“. Aufklärung im Geiste von Friedrich Schiller und Gotthold Ephraim Lessing. Und an heutige Koordinaten: definitv systemrelevant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!