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Über die Erziehung fremder KinderEs braucht ein Dorf. Aber welches?

Gehören entfernt bekannte Kinder zum eigenen Erziehungsbereich? Der Ethikrat ist zu sehr mit neuen Einkommenquellen befasst, um sich zu äußern.

Eine philosophische Hotline: der Ethikrat sieht hier ganz neue Geschäftsmöglichkeiten Foto: Oliver Berg/dpa

A m Abend eines Tages, der mehr als nur missraten war, wählte ich am Telefon die 333. Ich hoffte, dass an deren Ende eine beruhigende Botschaft lag, etwas in der Art des Seewetterberichts außerhalb der Sturmsaison. Zu meiner Überraschung meldete sich der Ethikrat. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben.

„Wenn Sie eine Einführung in die Geschichte der praktischen Ethik wünschen“, sagte der Ethikrat, „dann drücken Sie die Eins. Wenn Sie Hinweise zum Thema praktische Ethik und Intersektionalität wünschen, dann drücken Sie die Zwei.“ Es folgte ein Husten, dann sagte die Stimme des Ratsvorsitzenden: „Wenn Sie direkt mit einem Mitglied des Ethikrats verbunden werden wollen, dann sagen Sie: ‚Heureka!‘“

„Sind Sie nicht schon am Apparat?“, sagte ich und es war taktlos, die technischen Bemühungen des Rats zu missachten, aber meine Stimmung war zu schlecht, um andere unbehelligt zu lassen. „Ja, das stimmt“, sagte der Ethik­ratsvorsitzende munter. „Wie haben Sie das gemerkt?“ „Es war nur so eine Ahnung“, sagte ich matt, „vielleicht wegen des Hustens.“ „Nun“, sagte der Vorsitzende, „daran werden wir noch feilen. Welchen Service wünschen Sie?“

„Ich würde Sie gerne treffen“, sagte ich. „Ich bin ein bisschen im Unreinen mit mir und wäre froh, Sie zu sehen.“ Tatsächlich, dachte ich, musste es mir wirklich schlecht gehen, denn die letzten Treffen mit dem Ethikrat waren nicht im engeren Sinn hilfreich gewesen. Aber die Kette meiner pädagogischen Unzulänglichkeiten war zu dicht geknüpft, um nicht nach jedem Strohhalm zu greifen.

Gerade, als ich von der Arbeit nach Hause kam, hatte ich ein Besuchskind am Abendbrottisch vorgefunden, das seine Nudeln als Bart vor sich trug. „Könntest du etwas schöner essen“, hatte ich statt einer Begrüßung gesagt und meine Familie hatte mich befremdet betrachtet.

Die ewigen Entschuldigungen

Das Besuchskind wirkte unerschüttert, aber ich haspelte ein paar Entschuldigungen hinterher, während ich in einer Ecke meines Kopfes dachte: Warum heißt es landauf, landab, man brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen und kaum kommt man als Dorfbewohnerin der Aufgabe nach, nagelt man sich selbst dafür ans Kreuz?

Der Ratsvorsitzende unterbrach meine Überlegungen. „Leider sind wir an das Tonstudio gebunden“, sagte er. „Wir machen gerade Aufnahmen, um uns neue Geschäftsbereiche zu erschließen. Aber wir können uns gern über dieses Medium unterhalten.“ „Na prima“, dachte ich, „kaum wittert der Rat ein neues Publikum, lässt er die alten Schüler hinter sich wie alte Schuhe“, aber welche Wahl hatte ich schon.

„Was ist Ihr Anliegen?“, fragte der Vorsitzende. „Ich bin übergriffig mit anderen Kindern“, sagte ich, „das heißt, ich erziehe an Besuchskindern herum, obwohl ich mit der Erziehung meiner eigenen durchaus ausgelastet bin.“ Ich schilderte das Spaghetti-Fiasko und dann noch ein gewichtigeres, das etwas mit einer Aufforderung zu tun hatte, nicht schlecht über andere zu reden, aber das Ganze war mir immer noch so unangenehm, dass ich abbrach.

„Es sind noch 20 andere philosophisch Interessierte vor Ihnen in der Warteschleife“, hörte ich im Hintergrund eines der beiden anderen Ratsmitglieder sagen. „Das sind viel zu viele“, sagte das andere Mitglied und begann zu kichern. Ich versuchte sie zu überhören.

Der Wunsch nach Absolution

„Ich habe mich hinterher entschuldigt“, sagte ich zum Ratsvorsitzenden, „und dann meiner Mutter davon erzählt. Sie meinte, dass Kinder mit solchen Entschuldigungen nicht viel anfangen könnten, weil es sie verunsichert. Weil sie sich Eltern wünschen, die nicht ständig zurückrudern müssen. Und ich finde ohnehin, dass diese Entschuldigungen ja meist nur der Wunsch nach Absolution sind und beim nächsten Mal macht man es keinen Deut besser. Ich zumindest nicht.“

Niemand sagte etwas. „Sind Sie noch dran?“, fragte ich. Es knackte in der Leitung. „Dieser Anruf kostet Sie 300 Euro“, sagte eine dumpfe Stimme und ich musste annehmen, dass es eines der Ratsmitglieder war, das sich ein Tuch vor den Mund hielt.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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