Spektakulärer EM-Start der Niederländer: Tischler mit Talenten
Die Skepsis vieler Niederländer gegenüber Trainer Frank de Boer ist noch nicht aus der Welt. Aber das zauberhafte 3:2 gegen die Ukraine überzeugt.
Frank de Boer war mittendrin, als die Sieger sich den Fans näherten, doch kurz vor dem Strafraum bog er lieber ab und schritt zurück zu den Mitarbeitern in seiner Coachingzone. Für ein Bad des Trainers in der Menge ist es noch zu früh, die Skepsis vieler Niederländer gegenüber diesem Fußballlehrer ist noch nicht aus der Welt. Allerdings wird de Boer an diesem zauberhaften Turnierabend ein paar neue Freunde im Volk gefunden haben.
Schließlich hatte seine Mannschaft ein Drama inszeniert, das sogar dem strengen Johan Cruyff gefallen haben dürfte, dort oben auf seinem orangenen Thron im Fußballhimmel. Das 3:2 (0:0) gegen die Ukraine in einem brodelnden Stadion war das spektakulärste Spiel der ersten EM-Tage, de Boer sagte: „Wir haben ein holländisches Team gesehen, das sehr ausbalanciert und sehr dominant gespielt hat.“
Der Trainer blieb erstaunlich nüchtern in seinen Analysen, nachdem seine Mannschaft in fast allen Phasen der Partie am energetischen Maximum agiert hatte. In der ersten Halbzeit waren den Holländern trotz vieler guter Angriffe noch keine Treffer gelungen, nach der Pause begann eine wilde Achterbahnfahrt, mit etlichen Abstechern in die sensiblen Zonen des niederländischen Fußballbefindens: die Flügel.
Seit Wochen stritten Experten darüber, ob es möglich ist, ohne den klassischen Dreiersturm der Elftal jenen schönen Fußball zu spielen, der vielen Holländern noch wichtiger zu sein scheint als die Ergebnisse.
Als sollte ein Tischler den Strom installieren
Dass die gelernten Außenverteidiger Patrick van Aanholt und der an diesem Abend allgegenwärtige Denzel Dumfries unter de Boer als Hauptverantwortliche für das heilige Flügelspiel zum Einsatz kommen, kommentierte die große Tageszeitung De Volkskrant selbst nach diesem Fest für Offensivfreunde mit einer süffisanten Analogie: „Tatsächlich: Dumfries war eine Art Rechtsaußen. (…) Es ist, als würde man einem versierten Tischler sagen, dass er den Strom installieren soll, während die qualifizierten Elektriker untätig danebenstehen.“ Die Skepsis bleibt.
In den Tagen vor der Partie hatten ein paar Oranje-Dogmatiker sogar ein Kleinflugzeug gemietet, das ein Banner mit einer klaren Forderung durch den Himmel von Amsterdam zog: „Frank, wie immer 4-3-3“. De Boer war es egal, der Trainer beschreitet einen Weg, der mehr und mehr einer pädagogischen Mission gleicht. Der ehemalige Weltklasseverteidiger ist dabei, seinem Volk beizubringen, dass Flexibilität, Pragmatismus und der richtige Einsatz der konkret vorhandenen Spielerqualitäten entscheidende Faktoren auf dem Weg zum schönen Spiel sind.
Dumfries, der zusammen mit Mario Götze und unter dem deutschen Trainer Roger Schmidt bei der PSV Eindhoven spielt, entpuppte sich als brillanter Flügelspieler für eine Fünferkette. Schon in der ersten Hälfte hatte er zwei gute Torchancen. Die ersten beiden Tore bereitete er dann mit energischen Vorstößen vor, bevor er den Siegtreffer selber köpfte. Das Stadion tobte.
Wout Weghorst wird gefeiert
„Es kommt mir zugute, wenn ich mit viel Tempo spielen kann“, sagte Dumfries, nachdem er die mit einem roten Stern verzierte Trophäe für den besten Spieler der Partie überreicht bekommen hatte. „Wir verbessern uns, und ich möchte so viel wie möglich in den Bereichen des Gegners sein.“ Offenkundig ist er ein Tischler mit ganz hervorragenden Talenten zur Strominstallation.
Mit Sprechchören gefeiert wurde aber auch Wout Weghorst, der mit seinen 28 Jahren sein erstes Turnierspiel für Holland absolvierte und sein zweites Tor für die Auswahl schoss. Mit diesem eher wuchtigen als filigranen Stürmertyp haben die Niederländer lange gehadert, und Weghorst unterlief auch ein folgenschwerer Fehler, als er vor dem zwischenzeitlichen 2:2 seinen Gegenspieler Roman Yaremchuk entwischen ließ. Zuvor war ihm aber in Kooperation mit Dumfries das 2:0 gelungen.
„Große Teile des Spiels waren wir komplett überlegen“, sagte Weghorst anschließend. Und das lag nicht zuletzt an einem Mann, an dessen Spiel selbst die Traditionalisten wenig auszusetzen haben: Frenkie de Jong vom FC Barcelona, der wie ein klassischer Spielmacher entschied, wann durch welche Räume in welchem Tempo nach vorne gespielt wird. Die Niederlande haben einen eigenen, von ihren großen Traditionen entkoppelten Stil entwickelt, der turniertauglich ist, so viel ist nach diesem ersten Spiel klar. „Wir können stolz sein“, sagte de Boer, auch wenn noch „weitere Schritte in der Entwicklung nötig“ seien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“