Medienlandschaft in der Türkei: Kein freies Wort mehr
Die Zerstörung der türkischen Medienlandschaft geht nicht nur auf das Konto Erdoğans. Doch der Präsident konsolidiert seine Macht über Propaganda und Zensur.
Was die Freiheit, Unabhängigkeit und Pluralität der Medien betrifft, so gleicht die heutige Türkei jener infernalischen „Republik der Angst“, die George Orwell in „1984“ ausgemalt hat, einem Land also, in dem es gefährlich ist, auf Fakten basierende Berichte und kritische Reportagen oder Kommentare zu publizieren.
Willkürliche Verhaftungen und kafkaeske Prozesse gegen Dissidenten, Gefängnisstrafen für Medienschaffende und staatliche Zensurmaßnahmen sind in der heutigen Türkei zur Normalität geworden. Zudem hat die systematische Repression eine Kultur der Selbstzensur gefördert, sodass heute in den allermeisten Redaktionen die Grundprinzipien des Journalismus außer Kraft gesetzt sind.
Dieser Artikel stammt aus der neuen Edition Le Monde diplomatique „Türkei: Gezi, Gülen, Großmachtträume“. Mit vielen Karten und Grafiken sowie Texten von Günther Seufert, Yavuz Baydar, Banu Güven, Christiane Schlötzer, Ali Çelikkan u.v.m. Das Heft aus der Reihe LMd Edition gibt es für 9,50 € im Buchhandel, im tazshop und natürlich auf der Webseite von Le Monde diplomatique.
Die NGO Freedom House führt die Türkei in seinem Pressefreiheit-Index bereits seit 2014 als ein „nicht freies“ Land. Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (ROG) liegt die Türkei unter 180 Ländern an 153. Stelle. Und die meisten Klagen, die 2020 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung der Meinungsfreiheit eingingen, richteten sich gegen die Türkei, die damit an der Spitze der 47 Mitgliedstaaten des Europarats liegt.
Nach den Daten der „Platform for Independent Journalism“ (P24), einer in Istanbul ansässigen NGO, saßen im Februar 2021 mindestens 83 Medienschaffende im Gefängnis. Das Stockholmer Center for Freedom weist für Januar 2020 sogar 175 inhaftierte Journalisten aus; auf der polizeilichen Fahndungsliste stehen weitere 167 Personen, die entweder im Exil oder untergetaucht sind. Und bei fast 50 türkischen Journalisten und Journalistinnen wurde seit Ende 2016 das persönliche Vermögen konfisziert.
Der Präsident setzt aufs Fernsehen
Auch willkürliche Kündigungen sind eine beliebte Strafmaßnahme. In den letzten fünf Jahren haben türkische Medienunternehmen insgesamt 3436 Leute gefeuert. Das Thema Jobsicherheit war in der Medienindustrie seit jeher ein notorisches Problem, zumal der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Branche bei lediglich 8 Prozent liegt.
ist Chefredakteur von Ahval News Online (ahvalnews.com) und Autor von „Die Hoffnung stirbt am Bosporus: Wie die Türkei Freiheit und Demokratie verspielt“, München (Droemer) 2018.
Während des Ausnahmezustands, den die Regierung nach dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 ausgerufen hatte und der zwei Jahre lang in Kraft blieb, wurden mindestens 189 Mediengruppen und -unternehmen (inklusive privater Agenturen) geschlossen oder beschlagnahmt. Seitdem konnte sich neben dem massiven Block regierungsfreundlicher Tageszeitungen nur noch eine Handvoll „kritischer“ landesweiter Zeitungen behaupten. Allerdings haben sie extrem niedrige Auflagen (durchschnittlich etwa 10 000) und wachsende Finanzierungs- und Vertriebsprobleme.
Das Fernsehen stellt für Erdoğan eine stärkere Bedrohung dar als die im Niedergang begriffenen Printmedien. Während viele ältere Menschen in der Westtürkei noch Zeitung lesen, decken große Teile der Bevölkerung in den östlichen Provinzen und ländlichen Gebieten ihren Bedarf an „Nachrichten und Kommentaren“ ausschließlich und kostenlos bei den TV-Nachrichtensendern.
Dieses TV-affine Segment macht nach Unesco-Angaben 85 bis 90 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung aus. Diese Zahl dokumentiert die einzigartige Macht des Fernsehens und erklärt, warum dieses Medium für die politischen Machthaber so wichtig ist.
Nachrichten verschwinden
Erdoğan ist sich voll bewusst, dass er mit der Kontrolle über die TV-Redaktionen den gesamten politischen Willensbildungsprozess beeinflusst und den Zugang zu kritischen Berichten und unerwünschten Meinungen einschränken kann. Für Erdoğan hatten und haben deshalb die TV-Nachrichtensender stets die höchste Priorität. Im Zuge seines beispiellosen Feldzugs zur Informationskontrolle hat er mittlerweile fast alle dieser Sender vereinnahmt. Das erklärt auch, warum sich die freie Verbreitung von Nachrichten und Diskussionen weitgehend ins Internet und in die sozialen Medien verlagert hat, wo öffentlicher Dissens noch zum Ausdruck kommt.
Da die Bedeutung des Internets, insbesondere für die jungen Generationen, auch Erdoğan und seinen Beratern klar ist, versuchen sie die Reichweite dieses Mediums möglichst zu beschränken. Dabei haben sie auch im Auge, dass bei den nächsten für Sommer 2023 geplanten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die Kohorte der unter 30-Jährigen fast die Hälfte der Wahlberechtigten ausmachen wird.
Dies ist der Hintergrund für den ständigen Kampf gegen freien Internetzugang, den Erdoğan und seine AKP vor etwa zehn Jahren aufgenommen haben. Nach Angaben der türkischen NGO „Vereinigung für Meinungsfreiheit“ (İfade Özgürlüğü Derneği, İFÖD) wurde in den letzten sieben Jahren der Zugang zu knapp 600 000 Internet-Domains und URL-Adressen, 42 000 Tweets und 11 000 Youtube-Videos gesperrt (Stand Oktober 2020).
Seit Juli 2020 kommt auch ein neuer Strafmechanismus zum Einsatz: Die staatlichen Behörden sperren regelmäßig den Zugriff auf bestimmte Inhalte oder löschen diese endgültig. Das geschieht so massiv, dass viele Nachrichten – vor allem über Korruption und Machtmissbrauch – spurlos und für immer verschwinden. Mit anderen Worten: Das öffentliche Gedächtnis wird systematisch gelöscht.
Twitter im Fadenkreuz der AKP
Auch die Giganten der sozialen Medien sind ins Fadenkreuz geraten; speziell Twitter, weil das Unternehmen sich geweigert hat, Vertretungsbüros in der Türkei zu eröffnen, wie es ein neues Gesetz verlangt, in dem viele einen Schritt zur Zwangszensur ansehen. Seit April 2021 müssen Unternehmen, die der Forderung nicht nachkommen, mit erheblichen Geldstrafen rechnen.
Mit ihrer ultraautoritären Politik haben Erdoğan und seine Partei ein vielschichtiges Zensursystem etabliert. Zusammen mit den etappenweisen radikalen Veränderungen der Besitzverhältnisse in der gesamten Medienlandschaft ist so eine kompakte Propagandamaschine entstanden. In diesem Sinne wurden auch die bestehenden Regularien geändert und insgesamt vier neue Instrumente zur Kontrolle der sozialen Medien geschaffen.
Das wichtigste unter ihnen ist das „Direktorat für Kommunikation“ (TIB), das im Juli 2018, genau zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch, eingerichtet wurde. Das TIB funktioniert als Unterabteilung des „Palastes“ und sein Präsident ist Erdoğan gegenüber direkt verantwortlich. Die immer weiter expandierende Behörde, die mit ihren rund 1500 Angestellten ein 30-stöckiges Hochhaus im Zentrum Ankaras belegt, ist von der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament ausgenommen. Die Hauptaufgabe des TIB besteht darin, das gesamte Spektrum der Print- und der audiovisuellen Medien tagtäglich zu überwachen und gegen Inhalte einzuschreiten, wenn immer es geboten scheint.
Das TIB ist auch für die Ausgabe der offiziellen „nationalen Presseausweise“ an türkische Journalisten zuständig, ebenso wie für die Akkreditierung ausländischer Korrespondenten. Die Vergabe läuft häufig nach dem Prinzip „Belohnung oder Strafe“, je nachdem wie gefällig oder kritisch die jeweiligen Journalisten oder Korrespondentinnen berichten. In den letzten Jahren hat das TIB die Vergabe eines Presseausweises auch ganz verweigert, wenn die Ansichten oder die ethnische Herkunft (etwa die kurdische) des Antragstellers nicht genehm waren. Und vor kurzem kam heraus, dass der TIB-Präsident den TV-Sendern eine Liste von Experten übermittelt hat, die „für den Auftritt in Talkrunden zugelassen“ sind.
Friedensrichter von Erdoğans Segen
Das zweite Kontrollinstrument ist der „Oberste Rundfunk- und Fernsehrat“ (RTÜK), dessen Funktion als unabhängige Regulierungsinstanz nur auf dem Papier steht. Die neun Mitglieder des RTÜK werden von den politischen Parteien gemäß der Stärke ihrer Parlamentsfraktionen nominiert. Die Mehrheit in dem Gremium stellen also die herrschende AKP und ihr Regierungspartner, die nationalistische MHP. Diese Mehrheit missbraucht ihre Macht, indem sie die Vergabe von Sendelizenzen an „oppositionelle Medien“ verweigert oder endlos verzögert. Der RTÜK erlässt auch Publikationsverbote und „gag orders“ für TV-Sender und auch digitale Streaming-Anbieter wie Netflix. Bei Ausstrahlung kritischer Inhalte kann der Rat Sendeverbote für mehrere Tage verhängen.
Das dritte Instrument ist die „Informations- und Kommunikationstechnologie-Behörde“ (BTK), die dem Transport- und Infrastrukturministerium untersteht. Schon 2000 unter der Regierung Ecevit gegründet, war sie schon damals Produkt einer gewissen Zensurmentalität. Seitdem wurde sie mehrmals auf eine Weise umgemodelt, die der konservativen Entwicklung und der wachsenden Intoleranz der politischen Klasse entsprach.
In ihrer heutigen Verfassung überwacht die BTK den gesamten Bereich des Internets und der sozialen Medien. Sie kann willkürlich Verbote und Einschränkungen verhängen, wobei bestimmte Fälle vor ein „Friedensgericht“ kommen, dessen Richter im Einvernehmen mit dem Präsidentenpalast ernannt werden. Dank ihrer wachsenden Macht greift die BTK immer tiefer in die digitale Domäne ein und zielt besonders auf diejenigen sozialen Medien, die für das Erdoğan-Regime gefährlich werden könnten.
Als viertes Instrument ist die staatliche Werbeagentur BIK zu nennen, die für die amtlichen Mitteilungen und Anzeigen von Behörden und staatlichen Institutionen in der Printpresse zuständig ist. Seit dem Putschversuch von 2016 werden die verbliebenen kritischen Presseorgane und die Zeitungen oppositioneller Parteien von der Vergabe staatlicher Anzeigen systematisch ausgeschlossen.
Notorisch korrupte Medienmogule
Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Einschätzung geht die Zerstörung der türkischen Medienlandschaft nicht ausschließlich auf das Konto von Erdoğan. Denn als der an die Macht kam, war die journalistische Szene bereits stark geschwächt und konnte den massiven Eingriffen und Manipulationen wenig entgegensetzen.
Erdoğan wusste Bescheid über die zutiefst korrupte Mentalität der Medienbesitzer und deren notorisch schmutzige Geschäfte mit früheren Regierungen; desgleichen über die Zustände in der journalistischen Zunft, die durch innere Polarisierung, ideologisch aufgeheizte Grabenkämpfe und das Fehlen jeglicher Gruppensolidarität gekennzeichnet war.
Bis zu Beginn der 1990er Jahre hatte der stramm kontrollierte staatliche Fernsehsender TRT (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) keinerlei Konkurrenz. Die einflussreichen Tageszeitungen (Hürriyet, Milliyet, Dünya) waren im Besitz traditioneller Verlegerfamilien oder wurden – wie etwa Cumhuriyet – von Stiftungen getragen.
Diese Publikationsorgane hatten die nationalistische Ideologie weitgehend internalisiert: Man respektierte die nationalen Tabus und praktizierte eine Selbstzensur bei „sensiblen“ Themen wie der kurdischen oder armenischen Frage und generell beim Thema Außenpolitik.
Geschäftsleute als Zeitungsmacher
Die Deregulierung des Medienmarkts in den frühen 1990ern hat diesen Zustand dramatisch verändert. Mit der Zulassung von privaten Radio- und Fernsehsendern konnten etliche Geschäftsleute, die in wichtigen Wirtschaftssektoren engagiert waren, auf den Medienmarkt vordringen.
Das war für diese Leute allerdings, wie sich alsbald zeigte, nur eine weitere Methode, um große Gewinne einzustreichen. Die Macht der privaten Medien verschaffte ihnen immer mehr Einfluss auf die Regierungen. Und dank dieser neu entdeckten Macht konnten sie öffentliche Ausschreibungen gewinnen und sich finanzielle Vergünstigungen sichern, die ihnen eine Ausweitung ihrer vielfältigen unternehmerischen Aktivitäten ermöglichte.
Keiner dieser Newcomer brachte irgendwelche Erfahrungen oder Kenntnisse über Journalismus und dessen besondere gesellschaftliche Rolle mit. Und so kam es, wie es kommen musste: Die geschäftlichen Interessen der neuen Medieneigentümer erweiterten das System der Selbstzensur. Und die Inhalte, die diese Medien verbreiteten, wurden nicht durch journalistische Faktoren bestimmt, sondern durch Hinterzimmer-Absprachen mit der Regierung und der Bürokratie. Die wechselseitigen Korrumpierung der politischen Klasse und der Medienmogule wurde am Ende so selbstverständlich, dass ihre Beziehung zur Illustration des Henne-oder-Ei-Problems taugen könnte.
Als die Türkei dann aber Ende der 1990er Jahre von einer schweren Wirtschaftskrise erschüttert wurde, lag nicht nur das politische System, sondern auch der gesamte Mediensektor in Trümmern. Viele große Mediengruppen waren am Ende, darunter einige besonders skrupellose, die sogar ihre eigenen Banken betrieben. Ihre Eigentümer landeten im Gefängnis oder gingen in Konkurs.
Kurzer Frühling der Freiheit
Als die AKP 2002 an die Macht kam, fand sie einen angeschlagenen und diskreditierten Mediensektor vor, der zur Manipulationen geradezu einlud. Ermutigt durch eine Serie von Übernahmen und Aufkäufen, ging Erdoğan daran, seine eigene Fraktion islamistisch-konservativer Unternehmer hochzupäppeln, von denen einige AKP-freundliche Medien betrieben.
Von 2002 bis 2010 erlebten die türkischen Medien einen kurzfristigen Frühling. Den verdankten sie zum Teil dem Bankrott der korrupten Medieneigentümer, vor allem aber den Reformen der AKP-Regierung, die mit Blick auf die EU-Beitrittsperspektive den Raum für mehr Freiheit, Unabhängigkeit und Pluralität der Medien schufen. Es war eine Zeit, in der Tabus fielen und die Bandbreite öffentlicher Diskussionen durch die Angebote konkurrierender Nachrichtensender erweitert wurde. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sich die Türkei auf demokratische Verhältnisse zubewegen.
Doch das war schnell vorbei. Spätestens 2011 wurde klar, dass Erdoğan eine Einmannherrschaft anstrebte. Der Weg dahin führte über vier wichtige Zwischenetappen: Er musste seine Rivalen innerhalb der AKP beseitigen; er musste die Gülen-Bewegung loswerden, die ihm bis dahin ein nützliches Fußvolk von Mitläufern gestellt hatte; er musste die volle Kontrolle über die Medien erobern; und zu gegebener Zeit auch über die Justiz.
Die Demontage der journalistischen Standards und die Transformation der schon vorher problematischen Eigentümerstrukturen im privaten Mediensektor begann Mitte 2013 im Gefolge der Gezi-Proteste und dauert bis heute an. Zunächst nahm Erdoğan drei große Mediengruppen und ihre Eigentümer ins Visier: die Ciner-Gruppe, deren Besitzer vor allem im Bergbau- und Energiesektor engagiert war, die Doğuş-Gruppe des Unternehmers Ferit Şahenk und die Doğan-Media-Gruppe.
Gezi und die Folgen
Seit dem 27. Mai 2013, dem ersten Tag der Gezi-Proteste, war Erdoğan persönlich bemüht, die Kontrolle über die Redaktionen zu gewinnen. Er rief bei den einflussreichen TV-Kanälen an – und setzte sich durch: Alle Eigentümer waren von finanziellen Vergünstigungen der Regierung abhängig und knickten sofort ein.
Von da an wusste Erdoğan, dass er sich auf Ciner und Şahenk verlassen konnte, ebenso wie auf deren populäre Nachrichtensender Haberturk TV und NTV. Nicht so sicher konnte er auf zwei andere Medienkonzerne zählen: Zum einen die Doğan-Media-Gruppe, ein riesiges Reich von mehreren TV-Sendern und Zeitungen, die mit ihren Auflagen den Markt der Printmedien dominierten. Und zum anderen die Zaman-Gruppe und die Koza-Holding.
Seine Abneigung gegen Aydın Doğan hat Erdoğan nie verbergen können, denn dessen Medien hatten seinen Aufstieg an die Spitze des Staats entschieden bekämpft. In den 1990er Jahren galt der Mogul als „Königsmacher“, der über seine Medien erheblichen Einfluss ausübte. In dieser Rolle sah sich Doğan selbst dann noch, als Erdoğan im März 2003 Ministerpräsident einer Einparteienregierung wurde, die über die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verfügte.
Der große Showdown schien unvermeidlich. Er kam 2005, als die Doğan-Medien einen Spendenbetrugsskandal um die AKP-nahe islamische Hilfsorganisation „Deniz Feneri“ (Leuchtturm) zu einem großen Thema machte. Doch Erdoğan schaffte es dank seiner wachsenden Medienmacht, die Auswirkungen des Skandals einzudämmen. Dabei machte er sich juristische Verfehlungen Doğans zunutze, indem er dessen Mediengruppe deftige Bußgelder androhte. Die Botschaft kam an: Der Mogul steckte zurück und die Selbstzensur in seinen Medien nahm zu.
Der Fall Milliyet
2011 ging Erdoğan einen Schritt weiter. Doğan wurde gezwungen, mit der Tageszeitung Milliyet sein wichtigstes Medium an die Familie Demirören zu verkaufen, von der man weiß, dass sie Erdoğan hörig ist. Kurz nach der Übernahme wurden viele Milliyet-Redakteure und -Kolumnisten gefeuert. Doch der entscheidende Schlag gegen Doğan ließ noch bis 2018 auf sich warten. Dazu weiter unten mehr.
Die Zaman-Gruppe und die Koza Holding besetzten das andere Ende des politischen Spektrums: Beide waren mit dem Prediger Fethullah Gülen assoziiert, dem Oberhaupt einer weit verzweigten islamischen Bewegung, die viele ihrer Anhänger im Staatsapparat und in der Justiz untergebracht hatte. Und zwar mit Unterstützung Erdoğans, der seit Beginn der AKP-Herrschaft ein politisches Bündnis mit Gülen eingegangen war, weshalb die von ihm kontrollierten Mediengruppen die Erdoğan-Regierung in den ersten Jahren rückhaltlos unterstützten.
Doch das Bündnis Erdoğan/Gülen wurde durch gegenseitiges Misstrauen ausgehöhlt: Beide Männer vertraten in einigen innen- und außenpolitischen Fragen unterschiedliche Positionen, obwohl beide aus demselben tief religiösen Segment der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft stammen.
Der endgültige Bruch erfolgte Ende 2013. Auslöser waren zwei juristische Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Machtmissbrauch unter der Erdoğan-Regierung. Das erste betraf die Umgehung der Sanktionen gegen Iran durch türkische Banken, das zweite undurchsichtige Kontakte mit al-Qaida. Beide Geschichten schlugen wie eine Bombe ein. In den Medien waren die Ermittlungen das große Thema, wobei sich die Gülen-Zeitungen besonders ins Zeug legten.
Erzfeind Gülen
Allerdings war die Gülen-Bewegung der türkischen Gesellschaft mittlerweile so suspekt, ja geradezu verhasst, dass sie politisch isoliert und damit angreifbar wurde. Als dann die übrigen Medien aus taktischen und ideologischen Gründen aufhörten, umfangreich über die Skandale zu berichten, war dies für Erdoğan ein „Geschenk Gottes“. Er verfolgte weiterhin das Ziel, die traditionellen wie die digitalen Medien einer Zensur zu unterwerfen, vollzog zugleich aber einen strategischen Schwenk und schmiedete ein politisches Bündnis mit seinen ehemaligen Feinden: dem kemalistischen und dem ultranationalistischen Lager.
Da Erdoğans Erzfeind nunmehr Gülen hieß, war es nur logisch, ein Bündnis mit dessen Feinden zu schmieden. Ab 2014 war Erdoğans zentrales Ziel die Zerschlagung der gülenistischen Medien. Dabei war ihm bewusst, dass seine neuen Verbündeten (die alten Feinde) sich damit nicht begnügen würden. Denn die säkularen Nationalisten hatten es auch auf die verhassten liberalen, pazifistischen und prokurdischen Medien abgesehen. Die Anti-Gülen-Kampagne ging also einher mit der Einebnung der gesamten Medienlandschaft, mit der Folge, dass seitdem auch verschiedene Segmente der kritischen Medien abgeräumt wurden.
Dann kam der 16. Juli 2016, der Erdoğan sein zweites und ultimatives „Gottesgeschenk“ bescherte. Nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs konnte er zum „Gnadenstoß“ ansetzen und mittels Dekreten und personellen Umbesetzungen sowohl die Medien als auch die Justiz gefügig machen. Mit der Schließung kritischer Medien wurden häufig auch deren digitale Archive für immer gelöscht.
Nachdem der Autokrat im April 2017 mittels eines Verfassungsreferendums ein „Super-Präsidialsystem“ etabliert hatte, stand seinem Ziel nur noch ein Hindernis im Weg: die Doğan-Media-Gruppe. Zu ihr gehörten zwei einflussreiche Fernsehsender und die führende Tageszeitung Hürriyet, die hohe Werbeeinnahmen erzielte, da ihre Auflage rund 40 Prozent der gesamten türkischen Printauflage ausmachte.
Hürriyet in AKP-Hand
Politisch und finanziell unter Druck gesetzt, musste Aydin Doğan am Ende kapitulieren. Seine Mediengruppe, deren politische Einschätzungen und Bewertungen die öffentliche Meinungsbildung und die türkische Innenpolitik über Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst hatte, wurde 2018 an die AKP-nahe Familie Demirören verkauft.
Was zurückbleibt, ist eine verwüstete türkische Medienlandschaft und ein Journalismus, der ums Überleben kämpft. Heute wird das ganze Land systematisch falsch informiert oder ganz im Dunkeln gelassen. Eine pluralistische öffentliche Debatte findet praktisch nicht mehr statt. Und die Propaganda- und Medienmaschinerie des Regimes hat den Aufstieg eines offensiven Nationalismus und eines aggressiven Islamismus gefördert.
Nachdem Erdoğan die traditionellen Medien zerstört hat, treibt er den Onlinejournalismus und die sozialen Medien immer weiter in die Enge. Sein rastloser Kampf richtet sich gegen einen ehrenwerten Beruf, der unverzichtbar ist. Jedenfalls dann, wenn es in der Türkei auch künftig noch eine demokratische Opposition geben soll – und eine Basis, von der aus die Gesellschaft zur Demokratie zurückfinden kann.
Allerdings scheinen die Aussichten auf eine solche demokratische Entwicklung zunehmend düster.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Dieser Text erschien zuerst in der Edition Le Monde diplomatique, No. 29. © LMd, Berlin
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