Boris Palmer und die Grünen: Schlussakt einer Entfremdung
Grünen-Chef Habeck nennt das Parteiausschlussverfahren gegen Tübingens OB „unvermeidlich“. Es dürfte darin auch um alte Konflikte gehen.
Die baden-württembergischen Grünen hatten am Samstag auf einem Landesparteitag beschlossen, ein Parteiausschlussverfahren gegen Palmer anzustrengen. Grund ist eine Entgleisung, die Palmer am Freitag auf Facebook postete. In einem Schlagabtausch mit einem anderen Nutzer über den ehemaligen Nationalfußballer Dennis Aogo verwendete Palmer das N-Wort, also eine rassistische Zuschreibung für schwarze Menschen – zusammen mit einem ordinären Wort für Aogos Penis. Palmer besteht darauf, den Kommentar ironisch und satirisch gemeint zu haben.
Parteichef Habeck sagte, er persönlich habe in den vergangenen Jahren bei Konflikten mit Palmer immer wieder versucht, Dinge im Hintergrund zu klären und Lösungen zu finden. „Es wurden wirklich viele Worte gewechselt und viele Hände ausgestreckt.“ Dass nun ein Verfahren angestrengt werde, sei aber „unvermeidlich“ gewesen. „Ich gehe davon aus, das es ein Gesamttableau der Auseinandersetzung wird“, sagte Habeck mit Blick auf frühere Vorfälle.
Palmer und die Grünen waren immer wieder aneinander geraten. 2018 schloss er auf Facebook von dem rüpelhaften Verhalten eines Radfahrers und seiner Hautfarbe darauf, dass er Asylbewerber sein müsse. Als die Deutsche Bahn 2019 in einer Werbekampagne mit dem schwarzen Koch Nelson Müller und der türkischstämmigen Moderatorin Nazan Eckes warb, fragte Palmer öffentlich: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ Im Frühjahr 2020 kritisierte er Corona-Maßnahmen mit dem Satz: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“
Kreisverband ist überrumpelt
Laut Bundessatzung der Grünen kann ein Mitglied ausgeschlossen werden, „das vorsätzlich gegen die Satzung oder erheblich gegen Grundsätze oder Ordnung von Bündnis 90 / Die Grünen verstößt und der Partei damit schweren Schaden zufügt.“ Habeck vermied es, persönlich Stellung zu beziehen. Er wolle dem Verfahren und dem Gericht nicht vorgreifen. Nun werde der Landesverband Baden-Württemberg die Punkte formulieren, die Palmer vorgeworfen würden, betonte Habeck. Die erste Ebene des Verfahrens könnte dann der Tübinger Kreisverband sein.
Dort war man am Montag etwas überrumpelt von dem Verfahren, dass da auf den Verband zu rollt. Immerhin hat man schon ein Schiedsgericht, das gibt es längst nicht in allen Kreisverbänden. Aber noch ist offen, ob dort überhaupt verhandelt wird. „Wir werden uns in den nächsten Tagen auch mit der Landespartei drüber unterhalten, wie das läuft“, hieß es vom Kreisvorstand.
Es ist unklar, ob ein rein ehrenamtlich besetztes Gremium dem bundesweit beachteten Fall gewachsen wäre, auch medial. Zudem sind die Kontakte und Verflechtungen im Tübinger Kreisverband eng. Man kennt sich seit Jahren, muss mit Palmer auf lokaler Ebene täglich zusammenarbeiten. Es könnte also sein, dass sich das regionale Gremium für befangen erklärt und dann ein Landesschiedsgericht über den prominenten Fall entscheiden muss.
So hatte sich das Boris Palmer auch gewünscht: Er will beantragen, dass nicht vor dem Kreis- sondern vor dem Landesschiedsgericht verhandelt wird. An dem Antrag des Landesverbandes auf ein Parteiordnungsverfahren arbeiten in Stuttgart jetzt Juristen. Ähnlich wie Habeck geht dort keiner davon aus, dass es bei den Vorwürfen der Partei gegen Palmer nur um die letzte Entgleisung gehen wird. Auch Palmer selbst findet: „Es ist gut und reinigend, wenn jetzt die ganze Palette an Vorwürfen einmal aufgearbeitet wird.“
„Das spaltet auch in der Stadt“
Spätestens seit 2015 erprobt Palmer die Geduld seiner Partei. Die allermeisten Grünen sind nur noch genervt. Man habe keine Lust, immer über die Stöckchen zu springen, die Palmer hinhalte, hieß es in der Berliner Parteizentrale. „Es ist ein fortlaufender Prozess der Entfremdung, der sich jetzt beschleunigt hat“, sagte der grüne Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn. Kühn kennt Palmer lang, hat auch wegen kommunaler Themen immer wieder eng mit ihm zu tun. Anders als Palmer gehört er zum linken Flügel seiner Partei.
Aber für Kühn ist das Parteiausschlussverfahren trotzdem ein Dilemma. Jetzt begleite eine Debatte um Palmer womöglich den Bundestagswahlkampf. Aber ebenso undenkbar sei es gewesen, dass die Partei im Wahljahr nicht darauf reagiere, sagt Kühn. „Wir Grünen wollen ja ein breites Spektrum der Gesellschaft abbilden, aber nicht Rassismus und den Chauvinismus.“
Jetzt muss der Bundestagsabgeordnete womöglich Wahlkampf mit einem in Sachen Palmer gespaltenen Kreisverband machen. Wobei Kühn beobachtet, dass es auch auf regionaler Ebene immer einsamer um den einstigen grünen Shootingstar geworden ist. „Er agiert auf Facebook zwar nicht als Oberbürgermeister, aber er ist es ja trotzdem. Das spaltet auch in der Stadt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos