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Zone der Verunsicherung

Lange Zeit dachten die Grünen: die Sozialreformen beträfen Ihre WählerInnen nicht. Das war ein Irrtum – den die Partei nun allmählich revidiert. Dabei hilft es, Opposition zu sein

Das neue Postulat lautet: Wir brauchen eine Sozialpolitik, die wirksam gegen Armut schützt

„Es war ein Fehler, die Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in den letzten Jahren zu stark der SPD zu überlassen, die hier eine Kernkompetenz beansprucht, aber sie vielfach nicht einlöst.“ Dieser merkwürdige Satz findet sich im soeben verabschiedeten Wahlprogramm der Grünen. Ein Satz voller Einschränkungen, dennoch eine zutreffende Einsicht. Gut, möchte man antworten, das war der Fehler, aber was waren seine Ursachen?

Wohl kaum eine naturwüchsig-bürokratische Arbeitsteilung zwischen Rot und Grün entsprechend der Aufteilung der Ministerien. Denn was hätte den grünen Parteivorstand, was hätte die grünen Parlamentarier samt zugeordneten Beratergremien daran gehindert, sich mit je eigenen Vorstellungen zur Sozialpolitik an die Öffentlichkeit zu wenden?

Die Massivität, die Dringlichkeit, mit der die „soziale Frage“ im aktuellen Wahlprogramm erscheint, kontrastiert mit den Aussagen, die drei Jahre zuvor im Grundsatzprogramm der Grünen formuliert wurden. Sie kontrastiert auch mit dem intellektuellen Milieu, das die Grünen über zwei Jahrzehnte bestimmte.

Im Grundsatzprogramm der Grünen hieß es: „Die Arbeiterbewegung hat einen sozialen Ordnungsrahmen für den Markt durchgesetzt. Heute besteht die Aufgabe darin, einen ökologischen Ordnungsrahmen für die globalisierte Wirtschaft zu etablieren.“ „Sozialer Ordnungsrahmen“ meint die grundlegenden Funktionen des Sozialstaates, der in der Tat das Resultat Generationen währender Kämpfe der Arbeiterbewegung war.

Wie verhält sich der „ökologische Ordnungsrahmen“ als Zielvorstellung zum überkommenen „sozialen Ordnungsrahmen“? Woran festhalten, was umbauen, was neu entwickeln? Diese Fragestellung taucht nicht auf. Die von den Grünen geforderte Mindestsicherung im Grundsatzprogramm wurde im Rahmen einer Reform der Sozialhilfe angegangen, die aber in keine umfassende Vorstellung von der Verteidigung sozialer Rechte eingebettet war. Dies geschah, obwohl der Angriff auf diese Rechte bereits eingesetzt hatte.

Im Gegenteil: Die Grünen forcierten hier eine Idee individueller Selbstbestimmung, die sich abgrenzt vom omnipräsenten Sozialstaat, der individuelle Initiative unterdrückt. Und das trotz des sich abzeichnenden Sozialabbaus mit Hartz I–IV. „Nicht die entmündigende Fürsorge für andere, sondern der Wunsch des Einzelnen nach Selbstbestimmung sind der Hintergrund für den Sozialstaat der Zukunft“ (Grundsatzprogramm).

Lange Zeit bewegte sich das grüne Denken um die Achse einer „ökologischen Reform der Industriegesellschaft“. Es wollte an die Stelle eines ressourcenverschleudernden und umweltvernichtenden Wachstums eine von Nachhaltigkeit geprägte Weise des Produzierens und Konsumierens setzen, den „neuen Wachstumstyp“. Hierauf konzentrierte sich die grüne Einbildungskraft. Wenn von Gerechtigkeit die Rede war, dann immer schwergewichtig in „neuen“ Zusammenhängen – als Generationen- , als Geschlechtergerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit im „alten“ Sinn wurde mitgeschleppt, oft aus einer abstrakten Einsicht, dass es eben auch hier gerecht zugehen müsse.

Es existierte lange eine Fremdheit gegenüber der Arbeitswelt, denn die eigenen Forderungen wurden stets als die Menschheit angehend verstanden. Die Forderungen der ArbeiterInnen hingegen galten als partikular und untrennbar dem Status quo des Wachstumsfetischismus verbunden. Diese umstandslose Universalisierung der eigenen politischen Position war und ist verdächtig. Sie entbehrt einer gründlichen Reflexion: Wie verhält sich die eigene schichtenspezifische Interessenlage der grünen Mittelstandsklientel zu Forderungen mit wirklich universalisierbarem Anspruch?

Natürlich hatten viele der grünen Postulate, voran der Ausstieg aus der Atomkraft, diesen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu Recht. Auch war es stets denunziatorisch, das grüne Reformpotenzial als Ausdruck eines luxurierenden Anspruchsdenkens zu begreifen. Dies haben zu Unrecht lange Zeit deutsche Gewerkschafter behauptet und damit die grünen Barrieren noch verstärkt.

Dennoch bleibt: Dieses ganze grüne, um Individualität und Selbstverwirklichung kreisende Denken war ideologisch, Ausdruck falschen Bewusstseins. Es setzte die Maßstäbe der eigenen Klientel absolut, täuschte sich über die eigenen Möglichkeiten angesichts der gesellschaftlichen Realität.

Damit ist es nun vorbei. Freiheit und Selbstbestimmung, so das neue Wahlprogramm, können nur erreicht werden, „wenn es auch gerecht zugeht“. Die grüne Politik „hat gerade auch diejenigen im Blick, die von Ausgrenzung betroffen sind oder in eine ungewisse soziale Zukunft blicken“. Als zentrale Fragen des „globalisierten und postindustriellen Zeitalters“ werden jetzt aufgeworfen: „Wer ist drinnen und wer ist draußen“? oder „Wie holen wir die Ausgeschlossenen wieder herein?

Die „soziale Gerechtigkeit“ im überkommenen Sinn haben die Grünen nur mitgeschleppt

Früher glaubten die Grünen, sie seien jenseits des überkommenen Links-rechts-Schemas. Heute charakterisiert der Parteivorstand in seinem Entwurf des Wahlprogramms die Grünen als „moderne, werteorientierte und emanzipative Linke“. Eine Verortung, die allerdings vom Grünen-Parteitag abgeschwächt wurde. Die Grünen präsentieren sich nun für die Wahl als „ moderne, wertorientierte und emanzipative Kraft, die links und freiheitlich und wertkonservativ“ ist.

Dieser Verhedderung zum Trotz, ist der Positionswechsel offenkundig. Zwar ist die Kritik an Hartz IV im Wahlprogramm halbherzig und schreckt vor ihrer logischen Konsequenz zurück. Aber das Postulat lautet jetzt: „Wir brauchen eine Sozialpolitik, die wirksam und verlässlich gegen Armut schützt und Ausgrenzung verhindert.“ Warum der Pferdewechsel im reißenden Strom? Warum sich nach links drängeln, wo dort bereits der Platz knapp ist? Die Grünen legen sich in ihrem Wahlprogramm darüber Rechenschaft ab, dass gänzlich unterschiedliche Menschengruppen vom sozialen Ausschluss betroffen sind, darunter auch solche, die „aus der Mitte nach unten durchgefallen sind“. Die Exklusionszone wie die Zone der prekär Beschäftigten ragt heute weit in den grünen Mittelstand. Auch hier finden wir Verunsicherung, finden wir die Angst, „herauszufallen“.

Die Konterreform, die die Grünen halb widerstrebend, halb verblendet – „Arbeitslosengeld zwei ist der Einstieg in die Grundsicherung“ – mitgemacht haben, wendet sich gegen ihre eigene soziale Basis. Ist der Linksruck nur ein Reflex auf das veränderte Bedrohungsszenario, letztlich nur angepasste Interessenvertretung? Vorsicht mit schnellen Urteilen! Das Wahlprogramm unternimmt erste Schritte, einen „sozialen Ordnungsrahmen“, den man für obsolet hielt, neu auszumessen. Es macht sich Forderungen zu Eigen, die man früher als gewerkschaftlichen Konservativismus abtat. Es offenbart eine Integrationsarbeit, die allerdings nur nach dem Abschied von der Regierungsbank gelingen kann.

CHRISTIAN SEMLER

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