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Gedanken in der PandemieDer Anfang vom Abspann

Seit über einem Jahr leben wir nun in einer Pandemie. Langsam geht das Ende los, doch das Licht am Ende des Tunnels ist noch weit entfernt.

Es wäre schön, wenn alles nur ein schlechter Film wäre: Mehr als ein Jahr Pandemie Foto: Christoph Soeder/dpa

D as ist also der Anfang von einem langem Abspann. Ein paar Reihen vor mir stehen die ersten Leute auf und gehen raus, manche rennen. Manche lassen ihre Cola-light-Eimer liegen, sie treten einander auf die Füße, jemand stellt jemand anderem ein Bein. Was für ein beschissener Film das war, mit Überlänge.

Gut, es gab die Delfine, die durch Kanäle geschwommen sind, das war kurz schön. Aber ab der ersten Minute habe ich auf das Ende gewartet, zuletzt habe ich es herbeigesehnt, den Moment, wenn es auf der Leinwand dunkel wird und im Saal langsam hell. Flugmodus aus, es war ja nur ein Film. Und jetzt?

Jetzt kündigt es sich an, das Ende geht los und ich kann nicht aufstehen. Ich habe Angst, glaube ich. Ich habe Angst, dass draußen noch alles so ist, wie vorher, und ja, ich weiß schon, das Vorher war nie ganz weg. Ich hasse das Gerede von der Krise als Chance, aber ich habe mich nie näher dran gefühlt an der Möglichkeit ganz wesentlicher Veränderung. Wir haben ja viel geredet. Über Solidarität, Mitgefühl. Sowieso haben wir uns mehr gespürt als ewig nicht, vielleicht war es zuletzt so, als wir Teenager waren und Gefühle noch keine Filter kannten.

Als die Ungerechtigkeit der Welt noch wirklich weh tat, als wir dachten: Warum liebst du mich nicht einfach zurück, warum schießt ein Mensch auf einen anderen, wieso bleibt die Welt nie stehen? Als wir noch nicht kollektiv in Resignation geflüchtet sind und behaupteten, das sei Realismus.Ein bisschen so ist es gewesen, zwischendurch, in diesem Film. Eine andere Welt ist möglich, haben wir gesagt. Ein anderes Arbeiten, Wirtschaften, Konsumieren, Regieren, Teilhaben.

Vor ins Danach

Mittendrin hat mein Vater (66) begonnen, von seinem „früheren Leben“ zu sprechen, damit meinte er das Vorher. Ich (31) fand das sehr treffend, ich fühle mich auch etwas zwischen den Leben, und ich will nicht zurück ins Früher. Ich will schon vor ins Danach, aber ich kann noch nicht aufstehen. Ich würde gern eine Pause machen, mich ausruhen und nachdenken, wie wir nicht nur von Solidarität reden, sondern es auch sind. Wieso wird das Patentrecht für Impfstoffe nicht aufgehoben, warum kann man Gesundheit und Freiheit kaufen, wieso bleibt die Welt nicht mal jetzt kurz stehen?

Das waren ja gute Gespräche zuletzt. Bleiben die liegen, in der Kinosesselkante? Können wir die tragen, die guten Ideen und Absichten, während sie uns an der Tür lang ersehnte Nadeln in die Oberarme stecken und dann denken, dass wir wieder heile sind? In der Lobby wird jemand sagen „halt mal kurz“ und damit die sogenannte Normalität meinen, manche können dann in den Urlaub fliegen und andere weiter am Fließband stehen.

Aber vielleicht können wir gerade nichts halten außer uns selbst, und auch das nur so mäßig. Also bleibe ich sitzen, über die Leinwand fahren dreikommaelf Millionen Namen. Das ist ein langer Abspann, das dauert ein bisschen.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
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