Ausgangssperre in Berlin: Stille Nacht
Am ersten Wochenende mit Ausgangssperre halten sich die meisten an die Vorgabe. Die Parks sind leer, aber die Kids fühlen sich ungerecht behandelt.
In Berlin gelten seit dem Wochenende die Regelungen für die neue bundesweite Corona-Notbremse. Diese sieht unter anderem eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 22 und 5 Uhr bei einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern vor. Von der taz gefragt, was daraus folgt, sagte der Sprecher der Innenverwaltung, Martin Pallgen: Natürlich könnten die Einsatzkräfte nicht in jedem Winkel der Großstadt präsent sein. Aber dort, wo größere Gruppen auffielen, werde die Polizei konsequent und auch mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl einschreiten.
Als Treffpunkt bekannte Grünanlagen wie den Mauerpark oder den Park am Gleisdreieck werde man besonders im Blick haben, teilte die Polizeipressestelle mit. Man setze auf die Einsicht der Menschen. Wer allerdings nicht auf die Aufforderung der Ordnungskräfte reagiere, müsse mit Sanktionen rechnen.
22.15 Uhr am Samstag im Späti Matrix in der Kurfürstenstraße. Der Kiosk liegt in der Einflugschneise des Parks am Gleisdreieck. An normalen Samstagen – je wärmer draußen, umso mehr – brummt das Geschäft. Diesmal sind nur zwei ältere Kunden im Laden. Seit dem frühen Abend sei die Polizei im Park unterwegs und weise mit Lautsprecherdurchsagen auf die Ausgangssperre hin, erzählt der Verkäufer. „Joggen kannste aber bis Mitternacht“, mischt sich der eine Kunde ein, ein Herr mit grauen Haaren. Dann sei es ja gut, den Kiosk noch ein bisschen offen zu halten, sagt der Verkäufer und lacht. „Vielleicht kommt ja noch ein Jogger vorbei.“
Der Verein Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat am Sonntag im Namen von zwölf Personen Verfassungsbeschwerde gegen die in der Corona-Notbremse vorgesehene Ausgangssperre eingereicht. Mehrere Berliner Abgeordnete tragen diese mit, darunter Sven Kohlmeier (SPD), Anne Helm und Sebastian Schlüsselburg (beide Linke), Petra Vandrey (Grüne) und Stefan Förster (FDP). Zudem ist die grüne Bundestagsabgeordnete aus Friedrichshain-Kreuzberg, Canan Bayram, dabei. „Die Bundesregierung weigert sich, die Wirtschaft beim Infektionsschutz wirklich in die Pflicht zu nehmen. Stattdessen verhängt sie eine Ausgangssperre, die unverhältnismäßig in die Freiheitsrechte eingreift", begründete Vandrey bei Twitter ihr Vorgehen.
Zugleich stellte die GFF einen Eilantrag in Karlsruhe mit dem Ziel, dass das Bundesverfassungsgerichts die nächtlichen Ausgangssperren einstweilen außer Kraft setzt. Diese verbietet es weitgehend, die eigene Wohnung zwischen 22 und 5 Uhr zu verlassen, wenn die 7-Tage-Inzidenz über 100 liegt. (taz)
Kaum Verkehr
Im Park ist es still wie nie. Keine Musik, keine Stimmen, das einzige Geräusch ist das Rattern der U-Bahn auf der Hochtrasse. Rote und weiße Punkte deuten auf durch die Dunkelheit hastende Radfahrer hin. Zwei Skater auf der Skaterbahn, ab und zu ein Jogger, ein Pärchen oder zwei Freunde, das ist alles. Auch auf der Yorckstraße ist kaum noch Verkehr.
Der M19 fährt fast leer. „Wir ändern nichts an den Fahrplänen“, hatte BVG-Sprecherin Petra Nelken der taz gesagt. Es gebe sehr viele Menschen, die nachts arbeiten und auf das öffentliche Transportwesen angewiesen seien. Allenfalls werde man die Zahl der Waggons etwas abspecken.
Es ist erstaunlich, wie schnell die Großstadt Berlin das Tempo runterdimmt. Wären nicht die vielen erleuchteten Fenster, man wähnte sich um 3 Uhr in der Früh. Dabei ist es noch nicht mal Mitternacht. Ein Flaschensammler radelt mit klimpernden Taschen vorbei. Findet er die Stille nicht auch bemerkenswert? So sei es doch in letzter Zeit immer, zumal in dieser Jahreszeit. „Mit Einbruch der Dunkelheit wird es leer in den Parks.“ Klar stünden die Jugendlichen nah beieinander, „aber Coronapartys habe ich nie gesehen“.
Aufgestaute Wut
Von der Gruppe, die sich bei Rewe mit Alkohol bestückt hat, gibt es keine Spur. Dafür finden sich in einer anderen Grünanlage – welche es ist, das ist versprochen, wird nicht verraten – fünf 17-jährige Jungs. Einer zieht am Joint, aus einer kleinen Box schallt Rap. Als sie Vertrauen gefasst haben, bricht die aufgestaute Wut aus ihnen heraus. „Wir nehmen das ernst“, sagt der eine und meint damit Corona. Aber sie könnten einfach nicht mehr länger zu Hause hocken. Ein Freund habe eine eigene Wohnung, man könnte auch zu ihm gehen. „Wir gehen aber lieber raus, das ist viel weniger gefährlich.“
Zwei 25-jährige Frauen sitzen etwas abseits auf einer Parkbank. Sie essen vegane Burger, rauchen Marlboro und unterhalten sich leise. „Die nehmen denen die Jugend weg“, sind sie voller Verständnis für die 17-Jährigen.
Zurück in der Kurfürstenstraße. Eine Transperson mit roten Kurzhaarschnitt und Pitbull an der Leine stöckelt über den Bürgersteig. Verschwörerisch lächelt sie der ihr entgegenkommenden Passantin zu und lässt wie die Spanier das R rollen: „Corona-Ausgangsverbot“, sagt sie und wedelt spaßhaft drohend mit dem Zeigefinger.
Das Fazit eines Polizeisprechers von dieser Samstagnacht: „Nichts Außergewöhnliches.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streitgespräch über den Osten
Was war die DDR?
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs