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Fischer ist fast allein verantwortlich

Schily macht amtlich, dass die Visapraxis gegen Schengenregeln verstoßen hat. Dabei habe ein Referent seines Hauses „übereifrig“ mitgemacht

Was Schily eingesteht, ist einigermaßen sensationell – auch wenn es politisch ohne Folgen bleiben wird

BERLIN taz ■ Der Mann, der heute seinen Auftritt hat, macht von der ersten Minuten an klar: Ich, Otto Schily, bin der Chef. In meinem Ministerium genau wie hier im Untersuchungsausschuss. Ich bin der Makellose, es gibt nur eine Autorität, die ich akzeptiere: Kanzler Gerhard Schröder.

Aber Otto Schily macht auch klar: Ich bin nicht gewillt, irgendetwas, was im Verlaufe des Visaskandals in der Regierung schief gegangen ist, zu beschönigen. Auf mysteriöse Umstände waren 1999 zwischen dem Innen- und dem Außenministerium Erlasse zustande gekommen, welche die Kontrollmechanismen bei der Visavergabe an Touristen praktisch außer Kraft setzten.

Wer ein so genanntes Carnet de Touriste bei Botschaften vorlegte, konnte praktisch ohne weitere Prüfung ein Visum bekommen. Das führte dazu, dass Schlepperbanden in den Jahren 2000 und 2001 die Einreise quasi steuern konnten. Sie lotsten zehntausende Frauen und Männer vor allem aus der Ukraine nach Deutschland – und erpressten sie.

Für alle, die noch Zweifel an dieser Version der Visa-Affäre gehabt haben sollten, beglaubigte der Innenminister sie gestern amtlich. Er stellt fest: Der Visa-Erlass aus dem Oktober 1999 und der so genannte Volmer-Erlass aus dem März 2000 verstießen gegen geltende Abkommen mit den europäischen Partnerstaaten des Schengenraums – weil sie die Kontrollen bei der Visavergabe stark vereinfachten. Verantwortlich dafür war nicht, das wiederholt Schily mehrmals, das Innenministerium, sondern das Auswärtige Amt, weil sein Freund, Bundesminister Joschka Fischer, gesetzlich dafür die alleinige Zuständigkeit hat. Schily legt so viel Betonung auf das zigfach vorgetragene Wort „nicht“, dass die Zuschauerbänke zwischen Amüsement und Bewunderung schwanken.

Allerdings: Es gibt einen Haarriss in Schilys Darstellung. Weil in seinem, dem Haus des Unfehlbaren ein einfacher Beamter der Arbeitsebene sich, so Schily, „übereifrig“ und also sehr eigenständig verhielt – ausgerechnet bei den kritischen Erlassen aus dem Jahr 1999, die alle Kontrollen aufhoben. Schily missbilligt das Verhalten seines Beamten, das er sich gleichwohl „politisch zurechnen lassen muss“, wie er sagt.

Der Referent, sagt der Innenminister, habe „in Überschreitung seiner Zuständigkeiten“ an dem Erlass vom Oktober 1999 mitgewirkt. Er habe sich „von Mitarbeitern des Außenministeriums zur Mitzeichnung verleiten lassen“. Das sei, und da zerbröselt Schilys Autorität, zweifellos eine „fehlerhafte Verfahrensweise“ – von der er freilich nichts wissen konnte. Denn der Beamte der unteren Ebene agierte komplett selbstständig, also ohne Wissen der Unterabteilungsleiter, der Abteilungsleiter, der Staatssekretäre, kurz: ohne Kenntnis der Leitung des Hauses.

Wie konnte es zu diesem Kontrollverlust von Schily über sein Ministerium kommen? Es haben sich „zwischen einigen wenigen Referaten Usancen herausgebildet, die zur Verwischung der Zuständigkeiten führten“, sagt der Minister – die im Übrigen aus der Zeit stammen, „bevor wir an der Regierung waren“.

Was Schily da eingesteht, ist einigermaßen sensationell – auch wenn es selbstverständlich politisch ohne Folgen bleiben wird. Denn die Regierung wird ohnehin wechseln, der Visa-Ausschuss ist mausetot. Schilys Ministerium hat also, obwohl straff geführt, ein beträchtliches Eigenleben entwickelt. Es war nicht nur offen für Einflüsterungen des Auswärtigen Amtes, sondern auch des ADAC, der auf den Visaerlass von 1999 Einfluss ausübte. Aus einem Dokument geht hervor, dass der ADAC nicht akzeptierte, die in dem Erlass gelockerten Kontrollen wieder zu verschärfen.

So wird aus dem Superminister Otto Schily, der die Abgeordneten des Visa-Ausschusses, die ihn doch befragen wollen, mit einem stundenlangen Vortrag quält, ein trauriger Held. Er, der eine ungewöhnliche Mischung aus Law-and-Order und Liberalität ist, wollte zwar den totalen Überblick behalten. Nur an einer Stelle, der entscheidenden hatte er ihn verloren. CHRISTIAN FÜLLER

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