Weniger Ausbildungsverträge: Im Corona-Loch
Durch die Coronakrise drohen mehr Ausbildungsplätze verloren zu gehen. Gewerkschaften und Bertelsmann-Stifung fordern eine Ausbildungsgarantie.
Die Coronakrise spürt auch Elektromeister Kai Schröder. Seine Firma mit 16 Beschäftigten in Rellingen vor Hamburg nimmt jedes Jahr einen Azubi auf. Üblicherweise kommen vorher vier, fünf Praktikanten, um auszuprobieren, ob das Elektrikerhandwerk etwas für sie ist. „Die müssen Lust und Liebe für diesen Beruf entwickeln“, sagt Schröder. „Es nützt nichts, wenn einer nur kommt, weil Vater und Mutter ihn drängen“. Doch nachdem im Lockdown die Praktikaphasen der Schulen ausgefallen sind, hatte er 2021 noch keinen einzigen Praktikanten. Laut Handwerkskammer finden manche Betriebe derzeit gar keine Azubis.
Fest steht für Auszubildende ebenso wie für Betriebe: Die Coronakrise erschwert die Suche und Vermittlung von Ausbildungsplätzen. Von einem richtigen „Corona-Loch“ in 2020 berichtet die Sprecherin der Handwerkskammer Hamburg, Christiane Engelhardt. Je nach Fachkammer wurden in Hamburg 13 bis 15 Prozent weniger Lehrverträge abgeschlossen als 2019. Das deckt sich mit dem Bundestrend.
Im Jahr 2020 unterschritt die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge mit 467.484 erstmals die Marke 500.000. 2019 waren es noch 525.039. Besonders starke Rückgänge gab es bei Industrie und Handel, wie das Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BIBB) berichtet. Der Einbruch sei vergleichbar mit dem der Finanzkrise von 2008 und 2009. Auch damals sank das Angebot um rund 54.000 Plätze, die Nachfrage um rund 59.400. Nur, dass damals auch die Schulabgängerzahlen zurückgingen. Anders in diesem Jahr: Nach Schätzung der Kultusminister werden sie leicht steigen.
Weniger Ausbildungsplätze im Jahr 2021
Und damit steigt voraussichtlich auch die Zahl derer, die keinen Ausbildungsplatz finden werden. Denn laut einer Befragung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) will 2021 jeder zehnte ausbildungsberechtigte Betrieb weniger Lehrstellen besetzen. Besonders häufig äußerten dies Betriebe aus dem Gastgewerbe, die von der Krise stark betroffen sind.
Oft werden die Ausbildungen im Gastrobereich von Schülern mit Erstem Schulabschluss – je nach Bundesland auch Hauptschulabschluss oder Berufsbildungsreife genannt – gewählt. „Wir haben Sorge, dass sie besonders stark betroffen sind“, sagt Ansgar Klinger, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Deutschland solle deshalb nach dem Vorbild Österreichs eine Ausbildungsgarantie einführen. „Wir fordern eine Ausbildungsgarantie für alle jungen Menschen bis 27 Jahre“, sagt auch Lars Geidel, Jugendbildungsreferent der DGB-Jugend Hamburg.
Dafür macht sich auch die Bertelsmann-Stiftung stark. Eine Umfrage der Stiftung unter 1.700 Jugendlichen ergab, dass sich Abiturienten viel weniger um einen Studienplatz sorgen als Schulabgänger um eine Ausbildung. Wer Abitur hat, habe in Deutschland eine weitgehende Studiengarantie, sagt Vorstand Jörg Dräger. Da sei eine „Ausbildungsgarantie“ als ebenbürtige Sicherheit geboten.
78.000 Schulabgänger fanden allein 2020 keinen Platz und landeten in Übergangsmaßnahmen, sagt Bertelsmann-Experte Frank Frick. Von insgesamt 260.000 jungen Menschen in „Warteschleifen“ sei die Hälfte nach zwei Jahren immer noch ohne Ausbildungsplatz. Jeder sechste der 25- bis 35-Jährigen sei ungelernt. Hinzu komme: Die jetzt verlorenen Ausbildungsplätze kämen nicht wieder. „Wir haben eine Strukturkrise, auf die müssen wir anders reagieren. Es gibt ein Marktversagen. Punkt.“
Von Österreich lernen
Österreich hingegen, so Frick, garantiere jedem jungen Menschen bis 25 Jahre eine Ausbildung. Die jungen Leute besuchen einen zehnwöchigen Vorbereitungskurs und schließen einen Ausbildungsvertrag mit einem Träger ab. In der Regel wechseln sie nach einem Jahr aus der Überbetrieblichen Ausbildung (ÜBA) in einen Betrieb. Wird partout keiner gefunden, findet die Ausbildung überbetrieblich statt.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag lehnt den Vorstoß ab. Eine Ausbildungsgarantie sei weder sinnvoll noch zeitgemäß, kommentierte Vize-Geschäftsführer Achim Dercks im Sommer diese Pläne. „Das sieht die Wirtschaft in Österreich ganz anders“, kontert Frick. „Die unterstützt die Ausbildungsgarantie, hat sie sogar mitentwickelt.“ Und es blieben kaum noch Jugendliche auf der Strecke. So wechselten zwei von drei ÜBAs zügig in einen Betrieb. Zudem werde die Auswahl der Berufe mit der lokalen Wirtschaft abgestimmt.
Schritte in Richtung einer Ausbildungsgarantie unternimmt die Hamburger Politik. Zunächst wird durch die „Jugendberufsagentur“ verfolgt, wo die Schulabgänger bleiben. Die Statistik für 2020 war besorgniserregend. 51 Prozent der Schüler, die nach der 10. Klasse abgingen, landeten in der sogenannten „Ausbildungsvorbereitung Dual“ (AV-Dual).
Dort erfüllen die Jugendlichen ihre Schulpflicht, gehen in der Regel zwei Tage pro Woche zur Schule und drei Tage in ein Praktikum. Zwar gilt nach einem Jahr meist die Hälfte der AVler als versorgt, jedoch zählt dazu auch, wer eine Beschäftigung ohne Ausbildung begonnen hat.
Ausbildungsgarantie auf dem Papier
Auf dem Papier gibt es in der Hansestadt zwar bereits eine Ausbildungsgarantie. Schlicht „Berufsqualifizierung“, also „BQ“, heißt das Modell, das jenen, die keine Lehre finden, wie in Österreich schon ab dem ersten Tag eine Ausbildung bietet.
Wegen der Pandemie hat Hamburg das zunächst auf bestimmte Berufe begrenzte Programm für alle Berufe geöffnet und 439 Teilnehmer aufgenommen, wie Maik Wantikow vom Hamburger Institut für berufliche Bildung (HIBB) berichtet. Allerdings müssen sich die jungen Leute für die Ausbildung bei der Stadt bewerben und nachweisen, dass sie sich auf dem Markt bemüht haben. Nicht jeder wird genommen.
Der 17-jährige Kamil hatte Glück. Über das BQ ergatterte er eine Lehrstelle als „Fachlagerist“. Kamil kam mit 14 aus Polen nach Hamburg und machte im Sommer seinen ESA. Das erste halbe Jahr BQ ist schon vorbei, in anderthalb Jahren kann er fertig sein. Knüpft er ein drittes Jahr dran, kann er „Fachkraft für Lagerlogistik“ werden und somit nicht nur Waren managen, sondern auch Touren planen. Ein wichtiger Beruf in der Hafenstadt.
Hätte Kamil keinen Lehrbetrieb gefunden, hätte die „Hamburger Ausbildungsgarantie“ gegriffen und der 17-Jährige überbetrieblich weiter lernen können. Aber bisher habe es nur sehr wenige solcher Fälle gegeben, sagt Wantikow. Und das sei gut so. „Akteure in Hamburg sind sich einig, dass die Ausbildung in einem realen Betrieb durch nichts zu ersetzen ist“.
50 Bewerbungen, keine Antwort
„Das BQ ist für,marktbenachteiligte' Jugendliche, die Pech im Bewerbungsprozess hatten“, so Wantikow. Wie zum Beispiel der Abiturient Hussein Sammo Derbala. Vor fünf Jahren kam er aus Syrien nach Deutschland. Letzten Sommer suchte er eine Zahntechnikerlehre. „Ich habe mich über 50 Mal beworben und bekam keine Antwort“, sagt er. Dann begann er ein BQ. Mithilfe von Ausbildungsbegleiterin Margitta Foelster erhielt er zügig einen Ausbildungsplatz. „Das hat geklappt, weil ich dem Betrieb das BQ erklären konnte“ sagt Foelster. Sie habe mittlerweile ein Netzwerk. „Es hilft, dass ich mit den Leuten spreche.“
Ursprünglich waren in dem 2009 entwickelten Hamburger Modell 1.000 staatlich geförderte Ausbildungsplätze vorgesehen. Der Berufsschulexperte und Linken-Politiker Kay Beiderwieden begleitet die Reform seit Jahren kritisch. Denn es würden zu wenige Bewerber in die BQ gelassen und zu viele abgelehnt, sagt Beiderwieden. So standen etwa 2013 533 Bewerber nur 198 Teilnehmern gegenüber. „Die Hürden sind zu hoch.“ Hamburg müsse das BQ dringend bedarfsgerecht ausdehnen.
Bertelsmann will nicht locker lassen und bald eine Berechnung veröffentlichen, was eine echte Ausbildungsgarantie für Deutschland kostet. Frühere Berechnungen gingen von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr aus, so Frick. Das sei angesichts der 500 Milliarden Euro Schulden, die Deutschland zur Pandemiebewältigung aufnimmt, vertretbar. Dass ein Sechstel der jungen Menschen ohne Ausbildung bleibt, „dürfen wir uns als Fachkräftegesellschaft nicht weiter leisten.“
Wenigstens kleine Schritte gibt es: Im Aufruf „Ausbildung trotz(t) Corona“ fordern die Handwerkskammer und 18 weitere Kammern und Verbände die Betriebe auf, freie Plätze mindestens in bisheriger Zahl anzubieten, um einen „verlorenen Coronajahrgang“ zu vermeiden.
Und dann sind da die engagierten Ausbilder wie Hörgeräteakustiker Per Zacho. Er hat einen zusätzlichen Azubi genommen. Für das Online-Lernen an der Berufsschule stellt Zacho seinen Azubis Laptops zur Verfügung. Und Friseur Björn Hauto darf in seinem 80-Quadratmeter-Salon zwar statt acht nur vier Kunden gleichzeitig bedienen. Doch damit seine Auszubildenden trotzdem an Modellen üben können, bleibt er noch nach Ladenschluss.
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