piwik no script img

Eskalation bei „Querdenken“ in KasselDer Kontrollverlust

Sarah Ulrich
Kommentar von Sarah Ulrich

Die Ereignisse in Kassel am Samstag waren absehbar. Dass die Polizei nicht richtig eingriff, zeigt, wie mächtig die radikalisierte Bewegung wird.

Staatlicher Kontrollverlust: nicht angemeldeter Demonstrationszug am Samstag in Kassel Foto: Thilo Schmuelgen/reuters

A m Wochenende war es wieder so weit. Rund 20.000 selbsternannte „Querdenker“ marschierten in Kassel durch die Innenstadt. Ohne Masken, tanzend, feiernd, rufend, inklusive NS- und Diktaturvergleiche, antisemitischer Plakate und verschwörungsideologischer Parolen. Fotos der Demonstration erinnern an Wimmelbilder. Es ist eine Vereinnahmung des öffentlichen Raums inmitten der dritten Pandemiewelle. Ohne Masken, ohne Abstand, ohne Hygieneregeln.

Es ist schwer, für die Melange an vermeintlich Bürgerlichen, Ver­schwö­rungs­ideo­log:in­nen, Hip­pies, Esoteriker:innen, extremen Rechten und Impf­geg­ne­r:in­nen einen einheitlichen Begriff zu finden. Was sie eint: der Glaube, dass Corona nicht gefährlich sei, der Hass auf die Politik und die Bereitschaft, tausendfache Ansteckung zu riskieren.

Erlaubt war die Versammlung in dieser Form nicht. Nur 6.000 Teilnehmende für eine stationäre Kundgebung waren genehmigt – mehr als dreimal so viele breiteten sich schließlich in der gesamten Stadt aus. Und die Polizei? Schaute zu, stand daneben, ließ gewähren, sprach an manchen Stellen sogar Sympathie aus. Ein Video zeigt, wie eine Polizistin mit ihren Händen ein Herz Richtung einer Impfgegnerin bildet.

Auf der anderen Seite der Gegenprotest, mit Maske, mit Fahrrädern, um die Wahrung der Demokratie und den Schutz vor dem Virus bemüht. Sie versuchen, die „Querdenken“-Demo aufzuhalten, die Polizei räumt die Blockade, „Querdenken“ applaudiert. Ein anderes Video zeigt einen Beamten der Polizei Thüringen, wie er einem Gegendemonstranten mit voller Wucht auf den Kopf und ihn damit in Richtung des Rades schlägt. Kurze Zeit später wird ein anderer gewalttätig über die Straße gezerrt.

Hatten wir das nicht schon? Ja, das hatten wir

Die Polizei sagt im Nachhinein, man sei mit dem deeskalierenden Konzept ohne Konfrontation und Zwangsmaßnahmen „eigentlich ganz gut gefahren“. Schließlich seien die Teilnehmenden überwiegend aus dem bürgerlichen Lager gewesen. Von den Demonstrantenzahlen hingegen sei man überrascht worden. Der hessische CDU-Innenminister Peter Beuth kündigt eine Überprüfung des Polizeieinsatzes an, die SPD-Oppositionspolitikerin und Fraktionsvorsitzende Nancy Fae­ser spricht von „großem Versagen“.

Man könnte meinen, all das wäre ein Déjà-vu, ein Murmeltiermoment. Hatten wir das nicht schon? Ja, das hatten wir. Erst im November bezeichnete die taz die „Querdenken“-Demonstration in Leipzig als „Eskalation mit Ansage“. Schon damals fragten wir, wieso die Polizei es nicht schaffte, eine illegale Demonstration zu unterbinden.

Falls es eine Steigerungsform von „Man hätte das wissen müssen“ gibt – die Ereignisse in Kassel sind der Inbegriff dessen. Wir kennen die Bilder aus Leipzig. Wir wissen, dass „Querdenker“ sich nicht um Infektionsgefahr scheren, wir wissen um ihr Gewaltpotenzial, wir wissen um die massive Mobilisierungskraft dieser Bewegung. Es war zu erwarten, dass sich das wiederholt – und deshalb hätte der Staat es verhindern müssen. Aber er hat die Kontrolle verloren.

Man kann die Verantwortung dafür nun einzelnen Behörden zuschieben. Die Gewerkschaft der Polizei sagt, die Gerichte hätten schon im Vorfeld die Veranstaltung anders bewerten müssen. Ein Polizist veröffentlicht auf dem Blog „Grundgesetz Ultras“ einen Brief, in dem er schreibt, Führung und Einsatzleitung hätten bis ins Ministerium taktisch versagt.

Zu Hilflosigkeit darf es nicht kommen

Tatsächlich gibt es auch ein Vi­deo, auf dem einige wenige Beamte hilflos versuchen, „Querdenker“ aufzuhalten, ihnen mit der Faust ins Gesicht schlagen. Auch das darf aber so nicht passieren. Denn die rohe Gewalt als Reaktion auf eine aus den Fugen geratene Lage ist eine Überforderungshandlung – und nicht etwa die kontrollierte Umsetzung von Auflagen oder gar Regulierung des Protests durch die Polizei.

Die Ereignisse in Kassel zeigen erneut, dass „Querdenken“ die gefährliche Radikalisierung einer Protestbewegung ist, die vor dem Schulterschluss mit Rechten keinen Halt macht. Wenn wir an Bilder wie den Sturm auf das US-Kapitol denken, müssen wir sehen: Auch hier gibt es eine Bewegung, die immer mächtiger wird, während der Staat zunehmend machtlos zusieht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Sarah Ulrich
Freie Reporterin
Sarah Ulrich arbeitet als freie Reporterin vor allem zu den Schwerpunkten Machtkritik und -missbrauch, Rechte Gewalt, Soziale Bewegungen und Feminismus.
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Die Behauptung, dass Menschen Intelligenz besitzen, wurde nur von Menschen aufgestellt.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Ich finde den Anspruch etwas überzogen, dass die Polizei verhindern soll, dass 20.000 Menschen sich versammeln. Wieviele Beamte und Beamtinnen sollen denn das durchsetzen? Sollen zehntausende Polizist:innen ganz Kassel abriegeln oder wie stellt sich die Verfasserin das vor?



    Wenn eine linke Demo aufgelöst wird, dann gibt es auch gleich danach ein paar Spontandemonstrationen und ohne extreme Polizeistaatsmaßnahmen lassen sich 20.000 entschlossene Menschen nicht daran hindern, sich zu versammeln.



    Wenn das eine linke Demo gewesen wäre, dann wäre wohl das halbe Stadtgebiet mit Tränengas vernebelt gewesen und Bilder wie bei G20 würden jetzt durch die Presse geistern. Aber wäre das besser?



    Und wenn mensch wirklich Gewalt will - ist es dann nicht widersinnig, den Bock zum Gärtner zu machen und zu erwarten, dass die eine Krähe der anderen ein Auge aushackt?

    • @85198 (Profil gelöscht):

      Ob das besser wäre, wird man in 2 Wochen an den Fallzahlen sehen, in 3 Wochen an der Auslastung der Intensivstationen.

  • Immer wieder Hessen.



    Was unternehmen die regierungsbeteiligten Grünen eigentlich?

    • @Senza Parole:

      Was die Grünen unternehmen? Nicht den Innenminister stellen. Der ist für die Polizei zuständig (und in diesem Fall, wo Polizei aus den Nachbarländern hinzugezogen wurde - der Fahrradschläger war aus Thüringen - ist es auch der Bundesinnenminister).

      Richtige Beschwerde, falsche Adresse. Gehen Sie sich bei der CDU/CSU beschweren. Die haben das verbrochen. Nicht die Grünen.

    • @Senza Parole:

      Kann man nicht sagen, immer wieder die Polize bzw BFE-Einheiten. Denn selbe Szenario gab es letzte Woche auch in Dresden (Sachsen), oder Ende letzten Jahres in Leipzig (Sachsen)

      Wir haben massive Probleme in der Polizeiführung und bei der Polizei auf der Straße.



      Wie man sich gegen Gerichtsurteile so einfach zur Wehr setzen konnte. Gleichzeitig aber so vehement gegen den Gegenprotest agieren kann, ist nicht mehr nur "verhältnismäßig" sondern hat System!

      • @Daniel Drogan:

        Und auch in Sachsen, oder in BaWü wo alles anfing, oder bei den Großdemonstrationen in Berlin: zuständig waren Innenminister vom rechten Rand der CDU/CSU.

        Man kann sich ja auch mal fragen, warum die Hyänendemos in Bremen, in Hamburg, in RP, sogar in Berlin (wenn es nur die lokale Szene ist), also überall dort wo CDU/CSU nicht den Oberbefehl über die Polizei haben, so viel kleiner ausfallen, und warum sie so viel seltener eskalieren, und warum durch nicht zuerst oder gar ausschließlich auf Linke eingeprügelt wird, anstatt aus bürgerlich-konservastivem Reflex über das Stöckchen zu springen, das die Springerpresse hinhält, und die Schuld für alles bei den Grünen zu suchen:

        "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung."



        -- Artikel 65, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

  • Zitat: "Schon damals fragten wir, wieso die Polizei es nicht schaffte, eine illegale Demonstration zu unterbinden."



    Weil es mit einem nicht unerheblichen Teil dieses Personals nicht möglich ist.



    Platt gesagt, man knüppelt nicht auf Leute ein mit denen man sympathisiert.

    • @petermann:

      Ich glaube, man knüppelt nicht auf Familien mit kleinen Kindern ein, platt gesagt.

      • 8G
        82286 (Profil gelöscht)
        @Bibi Blocksberg:

        M;it Kindern auf ne Demo, auf der Randale angesagt/gewollt ist? Da hat man schon einen gewaltig Sprung in der Schüssel, vornehm ausgedrückt.