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Buch über Regisseurin Chantal AkermanLebens­lange Wunde

In ihrem Buch „Chantal Akermans Verschwinden“ folgt Tine Rahel Völcker einigen Spuren der jüdischen Identität der Filmemacherin. Sie führen bis nach Polen.

Die Regisseurin Chantal Akerman 2011 beim Filmfestival Venedig​ Foto: Alessandro Garofalo/reuters

Die Filme von Chantal Akerman sind Inspiration und Herausforderung für die Berliner Bühnen- und Hörspielautorin Tine Rahel Völcker. Sie kennt das Werk der 1950 in Brüssel geborenen Regisseurin, mehr als vierzig Spiel- und Dokumentarfilme sowie filmische Rauminstalla­tionen, in denen Akerman in unverwechselbarer Handschrift von Frauenleben, Fluchten aus dem Alltag, existenzieller Heimatlosigkeit, Fremdheit und Verlorenheit erzählt.

Die Hommage „Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów“, ein schma­les, gut lesbares Taschenbuch, konzentriert sich auf sechs frühe exemplarische Filme, vom ersten Kurzfilm, „Saute ma ville“ (1968), in dem sich Akerman vom Haushaltseinerlei freisetzt, indem sie ihre Küche sprengt, bis zu „De l’autre côté“ (2002), einer dokumentarischen Erkundung der Migration an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze.

Filmografische Vollständigkeit oder die Frage, welche Werke im Kanon feministischer Filmklassiker ganz oben stehen, interessieren Völcker nur am Rande. Ihre Essays beschreiben eine unmittelbar persönliche Annäherung, ein eigenwilliges, zum Scheitern verurteiltes Experiment, mit dem sie sich als Deutsche Chantal Akermans Suche nach ihrer jüdischen Identität stellt, die Wurzeln ihrer Familie in Polen aufspürt und gegen das „Verschwinden“ ihrer Geschichte anzugehen versucht.

Völckers Experiment begann, nachdem die charismati­sche Regisseurin im Oktober 2015 ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Das Buch folgt dabei der Idee, öffentliche Aufführungen ihrer Filme zu initiieren, dort, wo das Familienschicksal der Akermans seinen Ausgang nahm: in Tarnów, einer polnischen Kleinstadt östlich von Krakau.

Mit den ausgewählten Filmen im Laptop reist die Autorin zweimal in die Geburtsstadt von Chantal Akermans Mutter Natalia. Doch ein „Rendez-vous“ findet nicht statt. Tine Rahel Völcker findet keine Spuren jüdischen Lebens, überall stößt ihr Ansinnen auf Unverständnis und Gleichgültigkeit. Ihre Erfahrung kann sie nur mit ein paar jungen Polen und zwei Besuchern teilen, vielleicht fiktiven Zeitgenossen auf derselben Wellenlänge, die sich als Nachfahren einstiger Tarnówer Juden zu erkennen geben.

Überprüfung der eigenen Haltung

So bleibt nur der Rückzug ins Bett, wie ihn Chantal Akerman oft inszenierte, eine einsame Filmsichtung unter den klammen Bettdecken einer billigen Pension. Mit solch situativen Schilderungen verschränken die Texte reale Erfahrungen und das Close Reading der Filme und schaffen ein eigenes Genre zwischen Tagebuchnotizen, Städteporträt, biografischer Annäherung und Überprüfung der eigenen Haltung gegen das „Verschwinden“ und Überschreiben der Shoah.

Tine Rahel Völcker gelingt es, die disparaten Teile zu einem Bild zusammenzufügen, das die tiefe Zerrissenheit der Regisseurin als Tochter von Holocaust-Überlebenden anschaulich macht.

Natalia, Chantal Akermans 1927 geborene Mutter, verließ Tarnów als Kind mit ihren Eltern, war jedoch auch in Belgien nicht sicher. In Brüssel wurde sie mit ihrer Mutter und Großmutter verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Als einzige ihrer Familie überlebte sie die Shoah, konnte jedoch ihr Leben lang nicht über diese Erfahrung sprechen.

Das Trauma ihrer Familie

Die Unmöglichkeit, ihr Schicksal mit anderen zu teilen, und dass Natalia stattdessen an der symbiotischen Beziehung zu ihrer Tochter festhielt, belasteten Chantal Akerman schwer. Verstrickt in Phasen sprühender Schaffensenergie und verzweifelter Depression, schwankend zwischen ihrer Liebe zur Mutter und der Rebellion gegen die bedrückende Enge, ging sie in öffentlichen Statements immer wieder offen auf das Trauma ihrer Familie ein, bearbeitete es indirekt in den Narrativen ihrer Filme und entwickelte eigene Formsprachen, die heute als Neuerfindung des Kinos gelten.

Völcker führt die mehr oder weniger deutlichen Spuren zusammen, wenn sie etwa den hierzulande wenig bekannten autobiografischen Theatertext „Une famille à Bruxelles“ einbezieht, dessen enervierender Plauderton die Sprachlosigkeit offensichtlich macht, oder wenn sie den Dokumentarfilm „News from home“ (1976) beschreibt, ein Beispiel für Chantal Akermans Fasziniertsein von New-York, das sich in ihren Stadtimpressionen zeigt. Über den Bildern liegt jedoch der Sound der Briefe ihrer Mutter, ein Kontrapunkt, der die Unmöglichkeit eines Exils aus den unaussprechlichen Erinnerungen reflektiert.

Anders als eine Psychoanalyse seziert das Buch nicht die intime Geschichte des Mutter-Tochter-Verhältnisses. Tine Rahel Völcker begibt sich auf die Suche nach den Lebenswelten der jüdischen Tarnówer in den 1930er Jahren, bevor sie in ein Getto gezwungen wurden und fast vollständig dem Naziterror zum Opfer fielen.

Aus respektvoller Distanz beobachtet

Zu dem produktiven Umweg, den die Autorin bevorzugt, gehört auch, dass Chantal Akerman selbst den Geburtsort ihrer Mutter nie besuchte, auch nicht anlässlich ihres im Buch beschriebenen Dokumentarfilms „D’Est“ (1993), der eine Winterreise von Berlin nach Moskau schildert. Völcker beschreibt die an dem Philosophen Emmanuel Levinas geschulte Haltung der Regisseurin, mit der sie die Menschen vor der Kamera aus respektvoller Distanz beobachtet und ihren Alltag in Zeiten des radikalen Umbruchs in langsamen Kamerafahrten festhält.

Das Buch

Tine Rahel Völcker: „Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów“. Spector Books, Leipzig 2020, 159 Seiten, 18 Euro

Die Arbeit, konstatierte Chantal Akerman damals, empfand sie als intuitive Rückkehr in den „Osten“, in ein unbewusstes Flui­dum der Sprachlaute, Klänge und Musiken ihrer Vorfahren.

Die filmischen Zeugnisse von Chantal Akermans lebenslanger Wunde als Tochter einer KZ-Überlebenden lohnen die Auseinandersetzung ebenso wie die um Abstand von anbiedernder Einfühlung ringenden Texte von Tine Rahel Völcker.

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