#MeToo in der griechischen Theaterszene: „Wir haben ein Gewicht“
Einem Intendanten wird Vergewaltigung vorgeworfen. Schauspielerin Antriana Andreovits und Regisseur Prodromos Tsinikoris über #MeToo in Griechenland.
Im Januar löste die olympische Seglerin Sofia Bekatorou eine griechische #MeToo-Debatte aus. Mehrere Sportlerinnen berichteten daraufhin von ihren Erfahrungen mit Funktionären und Sportärzten. Im Februar ergriff die Debatte auch die Theaterszene. Unter den Opfern sind vor allem Frauen und homosexuell orientierte Künstler:innen.
Im Zentrum des öffentlichen Interesses steht Dimitris Lignadis, der ehemalige Intendant des Nationaltheaters in Athen. Er wurde im Rahmen der Regierungsübernahme der liberal-konservativen Nea Dimokratia 2019 berufen und befindet sich derzeit aufgrund von Vorwürfen der Vergewaltigung von männlichen Jugendlichen in Untersuchungshaft.
taz: Prodromos Tsinikoris, Sie haben, wenn auch kurz, unter dem stark von Vorwürfen betroffenen Athener Ex-Intendanten Dimitris Lignadis gearbeitet. Was ist ihr Eindruck?
ist ein deutsch-griechischer Regisseur und wichtiger Vertreter des griechischen Dokumentartheaters mit dem Fokus auf die Rechte gesellschaftlicher Randgruppen. Zusammen mit Anestis Azas leitete er von 2015 bis 2019 die Experimentalbühne des Athener Nationaltheaters.
Prodromos Tsinikoris: Ich habe zusammen mit meinem Kollegen Anestis Azas vier Jahre lang die Experimentalbühne des Nationaltheaters geleitet. Bereits vor der Berufung von Lignadis beschlossen wir, unsere Verträge auslaufen zu lassen – aus Struktur- und Budgetgründen hauptsächlich. Daher überschnitt sich unsere Anstellung nur um eineinhalb Monate. Ich wollte mit ihm über die Spielzeit, die wir noch geplant hatten, und deren Umsetzung sprechen, aber er reagierte nicht. Ich saß mehr oder weniger allein im Büro und wurde komplett ignoriert. Erst nach dem Ende meines Vertrags hat er sich gemeldet. Viel mehr kann ich aus persönlicher Sicht nicht sagen. Darüber hinaus: Aus der Experimentalbühne wurde inzwischen eine Bühne für antikes Theater.
Antriana Andreovits, Sie sind im Vorstand der griechischen Schauspieler:innen-Union, die von Lignadis und seinem Anwalt beschuldigt wird, die Vorwürfe gegen den Intendanten als Reaktion auf dessen Kritik an der finanziellen Intransparenz der Union gestreut zu haben. So zitiert unter anderen die regierungsnahe Tageszeitung eKathimerini.
ist Theater- und Filmschauspielerin. Im letzten Jahr wurde sie zum stellvertretenden Vorstand der griechischen Schauspieler:innen-Union gewählt und kümmert sich dort intensiv um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Künstler:innen, inklusive der aktuellen #Metoo-Debatte.
Antriana Andreovits: Alexis Kougias, Lignadis’ Anwalt, ist in Griechenland sehr bekannt, allerdings nicht im guten Sinn, sondern für seine Aggressivität Opfern gegenüber, seinen Rassismus, seine Homophobie. Nun versucht er die Diskussion auf Boulevardniveau runterzubrechen und die Union zum Feindbild zu machen. Sehen Sie, das letzte Jahr hat uns Künstler:innen so viel Zeit gegeben, wie es uns genommen hat. Die Theater sind jetzt seit einem Jahr dicht. In dieser Periode wurde die Union wieder zum Leben erweckt, um für unsere Rechte, Würde, gegen Armut, ungerechte Bedingungen und natürlich auch sexuelle und sexualisierte Gewalt zu kämpfen. Aktuell wächst sie von Tag zu Tag um gut 25 Mitglieder. Wir sind jetzt über 7.000. Wir haben also ein Gewicht!
Die Kulturministerin, die für die Berufung Lignadis’ verantwortlich ist, hat ihn erst protegiert, nun wirft sie ihm vor, die Wahrheit durch Schauspielern zu verschleiern. Wie kommt das an?
Tsinikoris: Sie entwertet damit die Kunstform des Schauspiels. Weiterhin nannte sie Lignadis auf einer Pressekonferenz „einen gefährlichen Menschen“. Wobei über Wahrheit und Gefährlichkeit das Gericht entscheiden sollte. Schon allein dies macht ihren Rücktritt notwendig.
Andererseits wird auf Regierungsebene das Thema sexuelle Gewalt, vor allem auch in der Theaterwelt, ernst genommen.
Tsinikoris: Bislang sind zwei Dinge passiert: Oppositionsführer Alexis Tsipras [Syriza, A. d. R.] hat sich mit Vertreter:innen der Theater- und Performanceszene zum Gespräch getroffen. Und die Regierung hat die Leiter:innen von Institutionen unter ihrem Dach zu einer Arbeit an Verhaltenskodizes eingeladen.
Andreovits: Seltsamerweise gab es auch eine Unterstützungsaktion für die Kulturministerin Lina Mendoni: einen Brief, den mehrere regierungsbestellte Intendant:innen unterzeichnet haben. Und gleichzeitig findet eine zunehmende Zuordnung der Kunstszene als linkspolitisch orientiert statt. Wir werden also Zeugen des Versuchs der Regierung, unseren Kampf als Teil der alltäglichen Parteipolitik und -konflikte herabzustufen.
Dabei hat sich Syriza, die linke Vorgängerregierung, weder viel für die Kunst eingesetzt noch gegen die sexuelle Gewalt, etwa in überfüllten Flüchtlingslagern.
Tsinikoris: Dennoch wird die Kunst nun für die politische Positionierung missbraucht. Mitglieder der Regierung haben konkret ausgesprochen, dass die Kunstwelt von der Linken dominiert würde. Während – wie Sie sagen – Syriza, also die Linke, sich bislang kaum um die Kunst gekümmert hat.
Die internationale Presse spricht von einer „späten griechischen #MeToo-Debatte“. Ist „spät“ das richtige Wort?
Andreovits: Wir sind ein kleines Land. In der Kunstszene kennen fast alle alle. Hinter einer Debatte wie #MeToo stecken Schicksale. So etwas sollte man daher nicht forcieren. Aber ich denke, das Thema wird hier noch eine große Dynamik entfalten. Wir befinden uns nun seit zehn Jahren in einer schweren gesellschaftlichen und politischen Krise. Wenn nun das Schweigen in Bezug auf sehr schmerzhafte Dinge gebrochen wird, müssen wir als Gesellschaft in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen. An diesem Punkt sind wir mit der Union.
Ist die Performanceszene besonders betroffen?
Andreovits: Wir leben in einer pornografisch geprägten Gesellschaft. Berufe, für die der Körper eine wesentliche Rolle spielt, sind daher besonders verletzlich.
Einerseits scheint es eine stark patriarchal geprägte Gesellschaft zu geben, andererseits gibt es seit Anfang der griechischen Geschichtsschreibung extrem starke Frauenfiguren, ein starkes feminines Selbstbewusstsein. Ein Widerspruch?
Andreovits: Stark sein heißt nicht gleiche Rechte haben. Frauen werden in patriarchalischen Gesellschaften „gezwungen“, Haushalt, Kinder, Karriere und soziales Leben zu vereinen. Das erzeugt gleichzeitig eine Illusion von Starksein wie eine beständige kontrollierende Unterdrückung. In diesem Sinn gibt es zum Beispiel eine Tendenz, #MeToo herunterzuspielen und so zu tun, als existiere das Problem jenseits von Lignadis nicht.
Tsinikoris: Mehr noch, dass Lignadis eine Art Opfer eines Missverständnisses war. Im Fernsehsender Skai hielt eine Journalistin es für möglich, dass er einfach zu viele antike Stoffe gelesen habe und sich daher gern mit jungen Männern umgab. Auf Alpha TV wurde vom „Blick eines freien Mannes“ gesprochen. Beide Sender propagieren, wie fast die gesamte griechische Medienlandschaft, die Politik der rechten Regierung.
Andreovits: Wichtig ist neben der politischen Debatte der Generationskonflikt. Wir erfahren in der Union täglich neue Fälle im Kontext von #MeToo. Das erste Problem, mit dem Opfer zu tun haben, ist die eigene Familie. Jungen Menschen wird es verboten, über Erfahrungen in dieser Hinsicht zu sprechen. Die Eltern sind die höchste Mauer, die sie überwinden müssen.
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