Berliner Pop als Frisurenfrage: Die Haare richten
Haare machen die Musik: Eine kleine und wirklich an den Haaren herbeigezogene Berliner Popgeschichte, anlässlich des nächstmöglichen Friseurbesuchs.
Dass der Pop ohne Haare und die entsprechenden Moden gar nicht auskommen kann, zeigt bereits ein stippvisitenhafter Blick in die Popgeschichte. Manche musikalische Bewegung mag man sogar auf die Haartracht reduzieren, als Erkennungszeichen: Gleich am Anfang die Tolle für den Rock ’n’ Roll, die Bienenkorbfrisuren der Girl-Groups in den Sechzigern, was dann von Amy Winehouse recycelt wurde. Und ohne den Pilzkopf kann man sich die Beatles doch gar nicht vorstellen.
Aber die Haare wachsen nicht einfach so. Man gibt ihnen eine Form (oder eben ganz bewusst nicht), weil man damit etwas sagen will. Ein Gesprächsangebot. Oder das Gegenteil, zum Trotz. Was man sich heute ja gar nicht mehr vorstellen kann, wie mit den Beatles und den Stones jeder weitere Zentimeter Haar am Kopf für die Jugendlichen zum Kampf wurde, gegen die Gesellschaft. So war das bei den Männern. Und bei den Frauen ging der Kampf eher in die Gegenrichtung, wenn die alten Zöpfe abgeschnitten werden wollten.
Haare bestimmten das Bewusstsein.
Die Haare ab: Ab 1. März ist wieder möglich, was lange nicht mehr möglich war im Lockdown: sich die Haare fachgerecht schneiden zu lassen, in einem Friseursalon. Ab Montag dürfen Friseure wieder öffnen.
Und sonst nichts: Ansonsten aber sieht der Berliner Senat angesichts der Coronalage und neuer Gefahren durch Virusmutationen noch nicht die Zeit für rasche Lockerungen gekommen, hieß es am Dienstag nach der Senatssitzung. Signifikante Lockerungsschritte sind erst ab einer Inzidenz von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche zu erwarten.
Ein kleines Lied aus den Mittsechzigern schildert die Positionen in diesem Kampf. In seinem beinharten Antiprotestlied „Wir“ stellte sich Freddy Quinn gegen alle Gammler und Dauerprotestierer. Er sang: „Wer hat sogar so ähnliche Maschen, auch lange Haare, nur sind sie gewaschen? Wir! Wir! Wir!“
Das Establishment und seine Haarpflegemittel. Letztlich aber hatte es verloren und Freddy keine Chance mehr gegen die Langhaarigen, die mit dem 1968 uraufgeführten Hippie-Musical „Hair“ – „Haare“ in der deutschen Version – einen unglaublichen Erfolg feierten. Im Kern ging es in dem Singspiel schon darum, dass man für ein durchaus sinnvolles Leben überhaupt nicht zum Friseur gehen muss.
Längst dürfen die Haare dahin wachsen, wohin sie wachsen sollen, je nach Gusto. Im Pop und anderswo. Zuletzt aber mögen sie in pandemischer Zeit ein bisschen zu viel gewachsen sein. Ab Montag jedoch kann man das in Ordnung bringen lassen, Friseurbesuche sind dann wieder möglich. Und bis dahin mag man vielleicht in einer kleinen Berliner Popgeschichte ein paar Albumcover in Augenschein nehmen. Die Haarmoden betrachtend.
Natürlich gibt es auch Plattenhüllen von Berliner Bands in den Sechzigern mit dem Pilzkopf, und Ende der Siebziger mehren sich die strubbelhaarigen (Anti-)Frisuren der Punks, die wiederum die Einstiegshilfe sind für die Galerie hier mit Nina Hagen. Die „Godmother of Punk“, immer schrill. Was bei „Nina Hagen in Ekstasy“ von 1985 noch mit einem Ausrufezeichen versehen ist. Diese Haare! So lang! So pink! Das spiegelt schon mal ein in Modefragen nicht unbedingt dezentes Jahrzehnt. Dazu noch die Partydroge der Achtziger im Titel. Alles schrill. Die visuelle Zusammenfassung einer Zeit, in der die Beats doch härter auf den Tanzboden knallten. Statt tänzelnder Disco nun die elektronische Tanzmusik, was schließlich etwas später in der Erfolg von Techno münden sollte.
Noch aber wurde auch gerockt. Und die Ärzte müssen in dieser Berliner Popgeschichte schon deswegen dabei sein, weil sie mit „Le Frisur“ 1996 das Standardwerk zum Thema Haare herausgebracht haben. Ein Konzeptalbum, bei dem sich alle Songs um Haariges drehen, mit so Hits wie „Mein Baby war beim Frisör“, in dem heftig das Leid geklagt wird: „Mein Baby war beim Haareschneiden / Jetzt kann ich sie nicht mehr leiden“. Der Friseurinnung dürfte das weniger gefallen. Aber darum kann sich Punkrock nun wirklich nicht scheren.
Toll schon das Cover mit dem Effektgeräte-Kopfteil samt der Matte aus Kabeln drauf. Darf man als Seitenhieb auf Grunge betrachten, den Langhaarigenrock, der damals in den Neunzigern noch ein Role-Model war.
Davon ist dann bei „Bring mich nach Hause“, 2010 als letztes Album von Wir sind Helden erschienen, nichts mehr zu sehen. Da sieht man: wenig Haar und kurzes Haar und das Haar lang und offen. Und das Haar als Bart. So schaut sich hier der Querschnitt eines Band-Haushalts. Nichts, womit die Band wirklich in einer bestimmten Zeit festzunageln wäre. Und so eben schon wieder zeittypisch. Wie dann doch noch der Bart, der als Hipster-Accessoire durch den Szenediskurs der nuller Jahre geisterte.
Das war auch das Jahrzehnt, in dem dann das Prinzip „Band“ im Pop mächtig an Bedeutung verloren hat. Wieso sollte man sich schließlich streitend in Kleingruppen auf etwas einigen, wenn man sich gleich solo selbst verwirklichen kann?
Und die Haare tragen darf man sowieso längst nach Belieben. Ein Statement aber bleiben sie. Und so, wie einen der in Köpenick geborene und mit Metal und Schlager vertraute Rapper Romano von seinem 2015 erschienenen Album „Jenseits von Köpenick“ anschaut, streng und gleichzeitig unbestimmt, nimmt man seine Frisur zuerst nur nebenbei wahr als eine strenge Zopfrisur, die halt eine strenge Zopffrisur ist.
Erst in einem zweiten Blick mag der Betrachtende dann entscheiden, ob das jetzt wirklich einen Unterschied macht, ob diese Frisur mit den Zöpfen von einer Frau oder einem Mann getragen wird.
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