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Mutter zu Schulkind mit Behinderung„Zehn Minuten Unterricht am Tag“

Eltern von Kindern mit Behinderung brauchen Entlastung, fordert Gudelia Stenzel. In der Pandemie fühlten sich viele Familien vergessen.

Auf die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung wurde in der Pandemie lange kaum eingegangen Foto: privat
Interview von Franziska Schindler

taz: Frau Stenzel, Sie kümmern sich gerade um den Schulunterricht Ihrer siebenjährigen Tochter Lily. Können Sie uns Lily vorstellen?

Gudelia Stenzel: Lily ist ein sehr lebhaftes Mädchen. Sie ist unternehmungslustig und liebt es, unter Menschen zu sein. Sie mag Musik und tanzt, klettert und schaukelt gerne. Überhaupt will sie immer in Bewegung sein.

Wie sieht Lilys Alltag in der Pandemie aus?

Lily geht in die zweite Klasse einer inklusiven Grundschule. Theoretisch hätte sie dort zur Zeit auch einen Platz in der Notbetreuung. Aber wegen ihres Downsyndroms hat sie ein schwaches Immunsystem. Deswegen haben wir uns entschieden, sie erstmal nicht in die Schule zu geben. Es war uns zu riskant, wir hatten Angst, dass sie sich ansteckt.

Was hält Lily davon, zu Hause zu bleiben?

Die Schule fehlt ihr sehr! Sie fragt nach ihrer Schulbegleiterin, nennt die Namen der anderen Kinder, möchte, dass sie zu uns nach Hause kommen. Warum das jetzt nicht geht und was Corona ist, versteht sie nicht. Sie ist in der kognitiven Entwicklung geschätzt drei Jahre alt.

Klappt das Homeschooling?

Lily hat überhaupt keine Lust. Ich bin ja nicht die Lehrerin oder die Schulbegleiterin, sondern ich bin die Mama. So sieht sie mich auch. Sie weigert sich mitzumachen, schmeißt sich auf den Boden. Wir schaffen mit Müh und Not 10 Minuten Unterricht am Tag. Ich weiß, dass das in der Schule ganz anders funktioniert: Da ist sie motiviert und hat Spaß am Lernen. Sie sieht, dass die anderen konzentriert arbeiten, und will das auch. Und sie hat eine Eins-zu-Eins-Betreuung durch eine Schulbegleiterin. Gute zwei Stunden kann sie die Konzentration dort halten. Aber hier ist es unerträglich.

Werden Sie von der Schule unterstützt?

Einmal in der Woche kommt die Sonderpädagogin für eine Dreiviertel Stunde nach Hause – aber das ist so wenig. Und natürlich leidet die Beziehung zwischen Lily und mir unter der Situation.

Wie geht es Ihnen damit?

Ich bin in der Gastronomie beschäftigt und dachte am Anfang des Lockdowns, ich habe momentan eh keine Arbeit, dann kann ich mich auch um Lily kümmern. Aber jetzt verlängert sich die Zeit immer mehr. In den Weihnachtsferien war es noch erträglich, aber jetzt habe ich keine Kraft mehr. Wenn ich morgens aufstehe, bin ich müde und denke, oh Gott, ich muss jetzt bis 21, 22 Uhr durchhalten, bis Lily einschläft.

Und ich habe ja nicht nur Lily. Die ganze Familie muss weiter funktionieren. Mein Mann arbeitet in Vollzeit in einer Führungsposition. Er kümmert sich um das Homeschooling für unsere 13- und 16-jährigen Söhne, aber viel mehr kann er mir unter der Woche nicht abnehmen.

Fühlen Sie sich von Po­li­ti­ke­r*in­nen allein gelassen?

Ich bin ja froh, dass die Förderschulen im zweiten Lockdown überhaupt erwähnt wurden! Im ersten Lockdown sind die und Familien von Kindern mit Behinderung vollkommen untergegangen. Ich bin hier in Bonn in einer Initiative von Eltern für Kinder mit Downsyndrom aktiv. Viele fühlen sich vergessen, vernachlässigt. Wenn der Lockdown schon von Familien mit gesunden Kindern als eine große Herausforderung empfunden wird, um wie viel schwerer ist er dann für Familien mit Kindern mit Behinderungen!

Manche Kinder mit Beeinträchtigung müssen ja auch gepflegt werden…

Gerade wenn Kinder körperliche und geistige Beeinträchtigungen haben, ist das für die Eltern eine enorme Überforderung. Da nebenbei Homeoffice zu machen – wie soll das überhaupt gehen?

Was würde Familien von Kindern mit Beeinträchtigung jetzt weiterhelfen?

Es braucht dringend Entlastung. Denn wenn es den Eltern nicht gut geht, dann kann es den Kindern auch nicht gut gehen. Und dann zerbricht alles.

Wie soll das konkret aussehen?

Gut wäre es, wenn die Schulbegleiter täglich für mindestens eine Stunde nach Hause kommen würden. Unsere Kinder brauchen ganz besonders diese Konstanz, dass man am Ball bleibt.

Inwiefern?

Bei einem Kind mit normaler Intelligenz wird neu Erlerntes im Gehirn gespeichert, aber bei Kindern mit kognitiver Behinderung ist diese Speicherkapazität sehr klein. Deswegen muss das Gelernte tagtäglich in Erinnerung gerufen werden. Uns als Eltern von Kindern mit Behinderung macht Sorge, dass die Kinder nach dem Lockdown wieder von 0 anfangen müssen. Außerdem ist es für Menschen mit geistiger Behinderung extrem wichtig, dass man Rituale hat und die auch beibehält. Das gibt Sicherheit, und die hat Lily gerade nicht.

In Nordrhein-Westfalen werden die Grundschulen ab dem 22. Februar wieder geöffnet. Was ändert sich für Sie dadurch?

Die Kinder werden vermutlich in kleinen Gruppen in die Schule gehen, damit ist auch das Gesundheitsrisiko überschaubar. Ich freue mich schon sehr drauf. Und auch Lily: Wir haben einen Kalender für sie gekauft und den 22. Februar ganz groß markiert. Sie ist total happy und zählt schon die Tage.

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5 Kommentare

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  • 0G
    05344 (Profil gelöscht)

    Auf lange Sicht dürfte Lily profitieren, genauso andere mit einem schwächeren Immunsystem. Es ist davon auszugehen, dass in der Zukunft gesellschaftlich ein ganz anderes, ein schützenderes Bewusstsein vorherrscht, das sozusagen jetzt inmitten der Pandemie angelegt wird. Jetzt ist vermutlich die härteste Zeit. Es geht um Vertrauen auf eine bessere Zeit. Wer anpassungswillig ist, hat hohe Überlebenschancen. Eine krasse Formulierung, ich weiß.

  • Natürlich haben Kinder mit Handicap erhöhte Anforderungen - aber Frau Stenzel klagt schon auf sehr hohem Niveau. Sie kann die Tochter in die Notbetreung bringen, will aber nicht. Sie ist den ganzen Tag zuhause und das wird ihr zuviel. Welche Unterstützung möchte sie denn - Einzelbetreuung für ihre Tochter? Wer soll das zahlen und leisten?



    Ich hätte auch gern Einzelbetreuung fü meine demente Mutter gehabt - da gab es nämlich keine Notbetreuung in der Tagespflege, die hatte einfach zu. Und wir waren als Pflegende alle berufstätig - da konnte keiner zuhause bleiben.

    • @Sandra Becker:

      Ich sehe das ähnlich wie Sie. Ich bin selber Förderschullehrer an einer Schule in Hessen. Natürlich hätte ich gerne alle meine Schüler jeden Tag bei mir, denn trotz zweimaliger Zoom-Konferenz mit meiner Lerngruppe (7 Schüler) am Tag, zusätzlichem telefonischem Austausch und seltenen Hausbesuchen weiß ich natürlich, dass dies nicht den regulären Unterricht auffangen kann. Aber die Wünsche mancher Eltern sind einfach utopisch. Es IST übrigens gar nicht immer leichter für uns Lehrer mit Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Auch wir haben täglich in der Schule mit den Konsequenzen der jeweilgen Krankheitsbilder zu kämpfen, dies kriegen viele Eltern aber nicht mit. Nun verlagert sich der Stress nach Hause- tut mir wirklich leid, aber vielleicht hilft diese Zeit zumindest bei einigen Eltern einmal sehr deutlich zu machen, was Schule JEDEN TAG zu leisten hat... Ich will dafür kein Lob oder Dank, ich hab mir den Job ja selber ausgesucht. Trotzdem merke ich zunehmend, wie sehr das Auf-sich-gucken zunimmt und das große Ganze aus dem Blick verschwindet.

    • @Sandra Becker:

      Ja, wir jammern in Deutschland alle auf hohem Niveau, weil wir nun mal ein hohes Niveau haben.

      Wenn Sie den Artikel gelesen haben, wüssten Sie, dass die Tochter in der Schule eine Einzelbetreuung hat - während des gesamten Unterrichts. Sie möchte - auch das steht im Artikel - diese Einzelbetreuung zumindest eine Stunde am Tag (statt den ganzen Vormittag, wie zu Schulzeiten). Das finde ich jetzt nicht ganz so übertrieben. Wenn es die Schule in normalen Bedingungen schafft, die Einzelbetreuung für den ganzen Vormittag zu gewährleisten, wäre wohl eine Stunde am Tag zu Hause drin. Würde auch nicht mehr Kosten, da der/die Betreuer/in vermutlich weiterbezahlt wird ohne etwas zu arbeiten. Vermutlich würde sich auch der/die Betreuer/in auch freuen, wenn sie ihren "Schützling" täglich sieht und etwas tun kann.

    • @Sandra Becker:

      "Sie kann die Tochter in die Notbetreung bringen, will aber nicht." weil ihre Tochter ein hohes Risiko hat für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion hat! Das kann man doch sehr gut nachvollziehen, dass sie das Leben ihrer Tochter nicht aufs Spiel setzen möchte. Es muss für solche Risikogruppen eben angepasste Beschulungsangebote in der Pandemie geben. Wenn es während der Schulzeit eine Eins-zu-Eins-Betreuung durch eine Schulbegleiterin gibt, muss eine Eins-zu-Eins-Betreuung zumindest zeitweise auch im Lockdown gewährleistet werden - und das muss genauso gezahlt und geleistet werden wie auch außerhalb des Lockdowns. Es geht nicht, das alles auf Eltern abzuwälzen.

      Was Sie über Ihre demente Mutter berichten, klingt besorgniserregend - ein weiteres Defizit, für das dringend eine Lösung gefunden werden muss. Aber nur weil Sie dieses Leid erfahren mussten, heißt das doch nicht, dass das Leid von anderen nicht gemildert werden kann, wenn doch ganz klar Lösungen auf dem Tisch liegen, wie der Artikel zeigt.