Kunstspaziergang durch Schöneberg: Kunst für Mit-Esser und Anrufer
Hinter Glas: Pia Fischer frisiert Masken und Alexander Iskin performt auf Anruf. Im Netz: Russischer Impressionismus genial aufbereitet.
S o sehr hat sich das Schaufenster als letzter verbliebener Ausstellungsort durchgesetzt, dass Index Berlin jetzt in seiner Ankündigungsrubrik „Sunday Open“ mit „Lights ON!“ eine ganze Reihe besonderer Galerieschaufenster auflistet. Sie sind alle sehenswert. Aber, wie könnte es anders sein, nicht alle sehenswerten Schaufenster sind bei Index gelistet, das zeigt ein Spaziergang durchs heimische Viertel.
Die GEDOK, 1926 als „Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen“ von der Mäzenin Ida Dehmel (1870-1942) in Hamburg gegründet, ist das älteste und europaweit größte Netzwerk von Künstlerinnen. Die Mitglieder der Berliner Sektion haben derzeit das Schaufenster von Pia Fischer zum Ausstellungsraum erkoren.
Pia Fischer ist die Frau, die aus den Etiketten und Labelaufnähern großer und nicht ganz so großer Marken die wunderbarsten Kleider näht, dazu Rucksäcke und Portemonnaies, die auch für Normalverdiener erschwinglich sind. Ihr Schaufenster ist also immer voller Überraschungen. Dass es jetzt aber noch einmal ganz besonders knallt, liegt an den 12 Künstlerinnen, die sich dem GEDOK-Jahresthema „Soziale Plastik 2021“ gewidmet und ihre Werke ins Fenster gestellt haben.
Natürlich ist die Maske die soziale Plastik des Jahres 2021. Da hätte auch Beuys nicht widersprochen. Die persönlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um dieses Ding beeinflussen unsere Wahrnehmung der Maske erheblich und umgekehrt liefert ihre Ästhetik und Materialität reichlich Grund für Probleme und Fragen.
Und deshalb ist dieses GEDOK-Schaufenster so lustig und tröstlich, mit all den tollen Konfetti-Viren, die auf den Masken sitzen oder den super glamourösen Perlenstacheln, die die Coronavirus-Varianten und -Mutanten ausstrecken. Andere sind aus Wegwerfpapptellern und –plastiklöffeln gebaut („Für Mit-esser“), aus Geschenkschleifen („Für Geburtstagskinder“), einem Putzschwamm („Für Saubermacher“) oder sie sind mit fragilen Drahtfiguren bestückt („Traumtänzer“).
Die interrealistische Plastik und der Telefonjoker
Vor dem Schaufenster von Grisebach steht ein sympathisch wirkendes Paar und hinter dem Glas, im Schaufester, ein nicht minder sympathisch agierender Künstler. Alexander Iskin ist mit seinem „Fenster von hinten“ und seinen „interrealistischen“ Formationen der erste Akt des „Grisebach Schaufenster Projekts“, das seit dem 1. Februar im Zweiwochenrhythmus von verschiedenen Künstlern bespielt wird.
Es ist tatsächlich ein Spiel, mit dem der Künstler und das Paar sich vergnügen. Vor Iskin auf dem Boden liegen weiche, bemalte Stoffformen. Sie haben Magneten, wie sich herausstellt, als der Künstler beginnt, nach Anweisung des Paares – mit dem er über Handy verbunden ist – aus diesen Formen eine Plastik zu bauen. Und weil die Balance nicht immer ganz gelungen scheint, nimmt man da was weg und tut es dort hinzu.
Da die Malerei auf den Formen Fragmente aus Iskins Arbeiten zitiert, entsteht mit der Plastik gleichzeitig ein dreidimensionales Gemälde. Iskin malt auch all-perspektivische Gemälde, die immer ein stimmiges Bild ergeben, egal ob sie auf dem Kopf stehen oder um 90 Grad bzw. mehr oder auch weniger gedreht werden. Eines hängt an der Rückwand des Schaufensters und ein Drehmechanismus erlaubt es, der Sache auf den Grund zu gehen. Für weitere Momente des Interrealismus ist es allerdings zu kalt und der Künstler experimentiert ohne Zuschauer*in weiter (bis 14. Februar, „Live-Performance“ täglich 17-18 Uhr, rufen Sie den Künstler an: 0163 1901968. Das Projekt selbst geht bis 28. März).
Der Weg der Avantgarde
Alternativ zum Schaufenster lässt sich Kunst per Videobesuch erfahren. Zum Beispiel der „Impressionismus in Russland“, im Untertitel als „Aufbruch zur Avantgarde“ interpretiert. Wer Lust auf ein solides kunsthistorisches Seminar hat, dem sei der Onlinebesuch der Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam unbedingt empfohlen. Da gibt es zum Bespiel den bekannten Bildvergleich. Ilja Repin malt seine Familie beim Ausflug in die freie Natur „Auf dem Feldrain“ (1879), und weil Hasso Plattner bekanntlich eine schöne Impressionistensammlung hat, die nur ein oder zwei Stockwerke unter der Sonderausstellung zu sehen ist, findet sich dort das Gemälde Claude Monets „Mohnfeld“ (1873) mit analogem Motiv.
Repin könnte es vielleicht gekannt haben, denn er lebte dank eines Stipendiums von 1873 bis 1876 in Paris. Die Bekanntschaft mit dem Impressionismus, die er und noch einige andere russische Künstler*innen – etwa Nicolas Tarkhoff, wie seine „Straße im Pariser Vorort Saint-Martin“ (1901) zeigt – dort machten, brachte neben der Farbe auch das gewöhnliche Alltagsmotiv in die russische Malerei. Olga Rosanowa, bekannt mit dem französischen Spätimpressionismus, malte etwa schlichte „Blumen auf der Fensterbank“ (1910). Doch weniger die Blumen als die Fensterbank und der Vorhang, der den Blick ins Zimmer verhindert, fallen in ihrem malerische Duktus auf: Der Weg der Avantgarde wird deutlich. 1917 bekennt sich Rosanowa zum Suprematismus Kasimir Malewitschs. 1918 wird sie Opfer der in Russland grassiereden Diphterie-Epidemie.
Der Onlinebesuch der Ausstellung, der es erlaubt, Fragen an Kurator*innen zu stellen und der die Diskussion ermutigt, muss gebucht werden. Gleichzeitig kann man aber auch über die Website anhand des Barberini Prologs zu einem eigenständigen Rundgang aufbrechen. Nirgendwo in Berlin und Umgebung, so scheint es, ist der virtuelle Besuch perfekter aufbereitet. Besonders schön ist aber die Nachricht, dass die Ausstellung nach Potsdam zurückkehrt und ab dem 28. August wieder zu sehen ist.
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