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Streit um Priorisierungen beim ImpfenDie vergessene Gruppe

Manuela Heim
Kommentar von Manuela Heim

Es bleibt das dumpfe Gefühl, dass die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen von Spahns Ministerium nicht mitgedacht wurde.

Nicht alle pflegebedüftigen Menschen werden in Heimen betreut – doch das hat Spahn vergessen Foto: Oliver Berg/dpa

M an kann darüber streiten, ob Ärz­t*in­nen nicht früher geimpft werden sollten als vorgesehen. Oder ob Er­zie­he­r*in­nen aus Priosierungssgruppe 3 in Gruppe 2 rutschen. Aber ganz ehrlich: Angesichts eines aktuell allzu knappen Impfstoffs sind das Fragen für die Zukunft. Die Entscheidung, vor allem die Menschen zuerst zu impfen, die ein viel höheres Risiko haben, an Covid-19 zu sterben und sich zugleich nur schwer schützen können – sie ist nachvollziehbar und solidarisch.

Aber dass in diesen Überlegungen eine Gruppe Menschen komplett vergessen wurde, lässt hadern. Es wirft die Frage auf, wie wenig man im Bundesgesundheitsministerium mit der Lebenswirklichkeit verbunden ist. Menschen, die zu Hause gepflegt werden, kommen in der Impfverordnung nämlich nicht vor. „Als würden wir alle in Heimen wohnen“, sagen Aktivist*innen.

Nun gut, war ein Versäumnis, könnte man sagen. Und tatsächlich hat die Ständige Impfkommission nachträglich eine Regelung für bisher nicht genannte Härtefälle in ihre Empfehlung eingefügt. Das Gesundheitsministerium aber ließ sich bislang zu keiner Äußerung bewegen, ob auch die Impfverordnung entsprechend geändert werden soll.

Man kann nur vermuten, dass man dort Angst vor einer Flut von Einzelfallentscheidungen hat. Problematisch an Einzelfallentscheidungen ist ohnehin, dass sie vom Engagement der Betroffenen oder deren Familien abhängt. Und damit die, die nicht über solche Ressourcen verfügen, außen vor lässt.

Doch gerade für Pflegebedürftige, die sich nicht isolieren können, hätte es eine einfache Regelung gegeben: Indem man alle Menschen mit hohen Pflegegraden priorisiert – unabhängig von Alter und Wohnsituation. Das wäre nachvollziehbar, gerecht und unbürokratisch.

Selbst wenn Jens Spahn nun verkündet, dass zumindest eine Härtefallregelung in der Verordnung Platz findet – das dumpfe Gefühl, dass die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung in seinem Ministerium nicht mitgedacht wird – es bleibt.

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Manuela Heim
Gesundheit und Soziales
Redakteurin in der Inlandsredaktion, schreibt über Gesundheitsthemen und soziale (Un-) Gerechtigkeit.
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10 Kommentare

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  • Es ist sogar noch schlimmer. Menschen, die zu Hause gepflegt werden, sind "schwerer" zu impfen da die Logistik der mRNA-Impfstoffe eine starke Kühlung erfordert, was bei Einzelimpfungen zu Hause shwieriger ist, als wenn Leute sich zu einem Impfzentrum begeben könnten.

    Aber da die EU ja nach dreistelligen Milliardenausgaben, gerade bei den Impfstoffen gespart hat, ist es sowieso müßig. Die Impfungen werden sowieso erst im späten dritten Quartal Fahrt aufnehmen.

    Wenn man den momentanen Impffortschritt extrapoliert, landet man bei etwa 9 Millionen Geimpften Ende August.

  • Zu den alten Menschen und gefährdeten Behinderten in Heimen:



    Es werden die naturwissenschaftlichen „Lösungen“ wie Impfen und Testen angepriesen, die kein Unternehmen längerfristig etwas kosten, sondern Gewinne bringen. Das ist opportun in einer kapitalistischen Gesellschaft. Pflege dagegen? Die Gesellschaft wird seit Jahren beschallt mit der Rede von der Überalterung und lässt sich jetzt einlullen, Alte hätten halt nun mal ein schwaches Immunsystem. Nicht, dass sie sterben, wird bedauert, sondern nur noch wie. Angela Merkel bricht es das Herz, soso. Bereits im März war klar, dass sich das Infektionsgeschehen auf Heime konzentrieren würde, seitdem nimmt die Katastrophe ihren Gang, und fast alle nehmen sie hin. Über 60% der Corona-Toten sind Pflegeheim-Bewohner*innen. Und noch im Dezember kann sich ein Heimbetreiber nach einem Ausbruch mit vielen Toten hinstellen und sagen, es sei nicht möglich, Infizierte in Einzelzimmern unterzubringen und von den Gesunden zu isolieren. Kurz zuvor kam der letzte Geschäftsbericht dieses Heims heraus und warb wieder mit steigenden Gewinnen. Bereits über 40% der Heime werden von profitorientierten Unternehmen betrieben, und diese Heime haben einen höheren Anteil an Doppelzimmern als die anderen. In der Zeit seit März wäre es ein Leichtes gewesen, durch Errichtung temporärer Bauten genügend Platz zu schaffen, damit Infektionen vermieden werden, und das nötige Personal einzustellen. Auch Hotelzimmer stehen leer. Aber das wäre wohl zu viel Eingriff in die unternehmerische Freiheit.



    Ökonomische und naturwissenschaftliche Rationalität sind offenbar nicht hinterfragbar in dieser von sexistischer Ideologie durchdrungenen Gesellschaft. Pflege dagegen? Pah! Wie profitabel und tödlich ist der Sexismus auch an dieser Stelle wieder!

    • 4G
      4813 (Profil gelöscht)
      @Margit Englert:

      Einzelzimmer und nicht impfen und das Personal nicht testen, das wäre ihre Lösung? Ernsthaft?



      Was sagen sie zu den Langzeitfolgen bei den Jüngeren?



      Natürliche Auslese?

      • @4813 (Profil gelöscht):

        Das ist das typische polarisierende Manöver der Sexisten. Sicherlich braucht man einen zuverlässigen Test und auch die Impfung, also die naturwissenschaftlich-technischen Methoden. Das Problem dieser Gesellschaft ist, dass daneben alles andere, was unbedingt notwendig ist um Leben zu retten, unterdrückt wird, weil in ökonomischer sogenannter "Rationalität" verlustbringend. Dienlich dazu ist eine sexistische und rassistische Ideologie, in der die Arbeit von Frauen und Nicht-weißen abgewertet wird.



        Vernünftig und menschlich wäre es schon im Frühsommer gewesen und ist es auch jetzt noch, mehr Platz zu schaffen zum Bsp durch temporäre Bauten und Öffnung der Hotelzimmer, und Personal einzustellen, was mit angemessenen Gehältern möglich ist.



        Es geht hier um Menschenleben und nicht um Spielbälle eitler Jungs!

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Es gibt noch eine vergessene Gruppe: Das sind Menschen, die in stark betroffenen Ländern wohnen. Es nutzt nichts, wenn wir hier alle durchimpfen und dann in diesen Ländern eine neue Mutation entsteht, gegen die unsere Impfung nicht mehr wirksam ist.



    Klar, wo sich hier Menschen ballen, Altenheime, Wohnheime etc. sollte man alle hier schnell impfen. Aber dann, ab mit dem Impfstoff nach Portugal, Brasilien und Südafrika.

    Und zwar aus Egoismus heraus.

    • @4813 (Profil gelöscht):

      Das ist ja auch etwas kurz gedacht oder wie kommen sie auf die Idee, dass wir hier vor der Haustür vor dem Entstehen von Mutationen gefeit sind?

      • 4G
        4813 (Profil gelöscht)
        @unbedeutend:

        Wir haben das Geld uns noch eine Weile vor Infektionen zu schützen, indem wir Kontakte einschränken.



        Das haben meisten Menschen nicht.

    • @4813 (Profil gelöscht):

      Die "ballen" sich nicht von alleine, sondern eine humane Gesellschaft kann ihnen genügend Platz lassen, damit auch sie sich nicht anstecken müssen. Das ist eine Gesellschaft, die ihre Heime ökonomischer und die Pandemie naturwissenschaftlicher sog. "Rationalität" überlasst, aber offenbar nicht.

  • Sehr undifferenzierter Artikel



    Der Begriff Menschen mit Behinderungen sagt erstmal gar nichts über das Risiko schwer zu erkranken aus. Es gibt Millionen Menschen mit Behinderungen. Es sterben Menschen in großem Umfang ab ca. 50 Jahren. Ich betreue Menschen mit geistiger Behinderung in einer Einrichtung. Diese sind zurzeit in der Impfpriorisierungsgruppe 2. Bei uns gab es und gibt es immer wieder das Auftreten von Masseninfektionen, bei denen kompletten Wohnheime "durchinfiziert" wurden. 30 Betreute, 20 Mitarbeiter, danach sind 7 Menschen mit Behinderung an Covid19 verstorben ( älter als 56). Wenn man jetzt jüngere Menschen mit Behinderung OHNE Prüfung des jeweiligen potentiellen Risikos zu versterben in Impfpriorisierungsgruppe 1 nimmt, geht dies zu Lasten der behinderten Menschen in den Wohnheimen, da nicht genügend Impfstoff vorhanden ist. Die Menschen mit geistiger Behinderung haben jetzt und auch schon immer überhaupt keine Lobby in diesem Land und befinden sich gesellschaftlich und AUCH bei anderen Menschen mit Behinderung an "unterster Stufe". Wer das bestreitet, kennt nicht die alltägliche Realität von Diskriminierung und Abwertung seitens aller anderen, auch derer von anderen Menschen mit Behinderungen!

  • Es bleibt leider letztlich unklar auf welche Gruppe genau der Text Bezug nehmen möchte. Teils ist von Menschen mit Behinderung die Rede, dann wieder von Pflegebedürftigen die nicht im Heim untergebracht sind. Zwischen beiden Gruppen mag es eine Schnittmenge geben, identisch sind sie jedoch bei Weitem nicht.



    Das allgemeine Bestehen einer Behinderung wird vom RKI [1] nicht als Risikofaktor geführt und was spräch auch dafür, dass zB eine 25-jährige Person die blind ist oder im Rollstuhl sitzt ansonsten aber gesund ist ein überdruchschnittlich hohes Risiko für einen schweren Covid-Verlauf haben sollte.



    Ebenso ist auch Pflegebedürftigkeit tatsächlich kein Kriterium in der Impfpriorisierung [2], solange aber die Risikofaktoren für einen schweren Coronaverlauf (die uU auch zur Pflegebedürftigkeit führten) berücksichtigt sind sollte das kaum ein Problem sein. Ebenfalls priorisiert sind Personen die Kontakt zu mehreren Pflegebedürftigen haben weil sie Infektionen weitertragen können.



    Perfekt ist die Priorisierung sicher nicht, wie sollte ein solch grobes Schema auch alle Grenzfälle, in einer Mangelsituation zumal, vollständig gerecht abdecken können. Klüger als die im Kommentar geforderten Kriterien Behinderung oder Pflegebedürftigkeit erscheint sie mir aber allemal.



    [1] www.rki.de/DE/Cont...Risikogruppen.html



    [2] www.bundesregierun...verordnung-1829940