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Proteste in TunesienNeue Generation probt den Aufstand

In Tunesien reißen die Proteste nicht ab. Mehrere Nächte in Folge haben sich junge Menschen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften geliefert.

Tunis am Dienstag: Demonstranten stoßen mit der Nationalgarde zusammen Foto: Khaled Nasraoui/dpa

Tunis taz | Am nördlichen Stadtrand von Tunis herrscht das normale chaotische Treiben. Nur die Hülsen von Tränengasgranaten erinnern an die nächtlichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen aus der Gegend.

Nizar Hazgui steht vor seinem Elektronikgeschäft und ist wütend. Unter die Randalierer würden sich Terroristen mischen, habe die Armee behauptet, doch das sei Unsinn. Da er sich um seinen Laden fürchte, sei er zwar nicht auf der Seite der Randalierer. „Von der Regierung und den Behörden möchte ich aber keine unbewiesenen Anschuldigungen hören, sondern wissen, warum hier zehn Jahre nach der Revolution noch jeder Zweite arbeitslos ist.“

Auch eine Woche nach dem zehnten Jahrestag des Sturzes Ben Alis im Jahr 2011 reißen die gewalttätigen Proteste in der Hauptstadt und anderen Städten nicht ab. In der Nacht auf Donnerstag fuhren in Kasserine und Sbeitla Radpanzer der Nationalgarde durch die Straßen und vertrieben Gruppen von meist jungen Männern, die zuvor Straßensperren errichtet und angezündet hatten.

Auf einer Pressekonferenz der Menschenrechtsorganisation FTDES warnten am Donnerstag mehrere Vertreter der Zivilgesellschaft die Regierung, weiter brutal gegen die Demonstranten vorzugehen. Nach FTDES-Angaben haben die Sicherheitskräfte mindestens 1.000 Menschen festgenommen. Das Innenministerium hatte bereits am Montag die Zahl der Verhafteten auf 600 beziffert. Ein in Sbeitla von einer Tränengasgranate getroffener 18-Jähriger liegt zudem mit einer Kopfwunde im Koma. Nach Regierungsangaben wurden auch mehr als ein Dutzend Beamte von Steinen verletzt.

In sozialen Medien rufen verschiedene Initiativen wie die sogenannte Generation X nun für Samstag zu einer Protestaktion gegen das harte Vorgehen der Polizei auf.

Tunesien leidet unter Zentralismus, Korruption und unfähigen Eliten

Malek Shgiri, Demonstrant

Ein FTDES-Sprecher verglich die aktuelle soziale Krise mit der vor zehn Jahren, als ein landesweiter Aufstand zum Sturz des Ben-Ali-Regimes führte. Dass die heutige Regierung unter Hichem Mechichi vergangene Woche ausgerechnet für den Jahrestag einen viertägigen Lockdown anordnete, machte viele wütend. „Doch der Grund für die Proteste ist nicht die Ausgangssperre“, betonte FTDES-Sprecher Ahmed Sayeb. „3,5 Millionen Tunesier leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Polizeigewalt radikalisiert die jungen Leute, die einen berechtigten Grund haben, auf die Straße zu gehen.“

Der Ober-Rabbiner protestiert

Unterdessen endete ein Versuch von Präsident Kais Saied, die Menschenmengen dazu zu bringen, die ab 20 Uhr geltende Ausgangssperre einzuhalten, in ein PR-Desaster: In einem Mitschnitt eines Gesprächs mit Demonstrierenden in Tunis warnt der 62-Jährige vor der Instrumentalisierung der Proteste durch politische Parteien und „klauende Juden, die sich unter die Menschen“ gemischt hätten. Nach Protesten des obersten Rabbiners des Landes entschuldigte sich Saied, ließ aber auch verlauten, er sei durch seine Gesichtsmaske falsch verstanden worden.

Regierungschef Mechichi hat Verständnis für die Wut auf der Straße geäußert. Er habe aber die Sicherheitskräfte angewiesen, weiterhin gegen Plünderungen vorzugehen.

Dem Vorschlag von Saied und Mechichi, künftig am Tage und friedlich zu demonstrieren, kamen am Mittwoch rund 200 Menschen in Tunis nach. Auf der Avenue du Bourguiba im Zen­trum der Hauptstadt forderten sie die Regierung mit Plakaten auf, sich endlich um die soziale Schieflage in dem 11-Millionen-Einwohner-Land zu kümmern.

„Trotz aller Reformerfolge der letzten Jahre leidet Tunesien unter einem noch aus der Kolonialzeit übernommenen Zentralismus, unter Korruption und unfähigen Eliten“, fasst der Aktivist Malek Shgiri, ein Redner auf der Demonstration, die Lage zusammen. Als Studentenführer hatte der 35-Jährige 2011 die intellektuelle Oppositionsbewegung in Armenvierteln wie Hay Ettadhamen populär gemacht.

Gemeinsamer Gegner fehlt

Zehn Jahre später fehlt den unterschiedlichen Protestbewegungen der gemeinsame Feind. Während die Demonstranten in Tunis friedlich demokratische Reformen fordern, herrscht während der Straßenschlachten in anderen Städten und den Armenvierteln von Tunis die Wut der 16- bis 22-Jährigen über ihre durch die Coronakrise noch verstärkte Perspektivlosigkeit.

Vielleicht ist es das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte, das die Gruppen doch noch zusammenbringt. Die friedliche Demonstration am Mittwoch lösten mit Helm und Schlagstöcken ausgerüstete Beamte ohne ersichtlichen Grund mit Tränengasgranaten auf.

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1 Kommentar

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  • Tränen stehen in meinen Augen. Nicht nur, ob der gespannten Lage in Tunesien, sondern auch der hier so gelungenen Berichterstattung darüber.



    Ich habe das Land zwischen 1993 und 1995 mehrfach bereist. Teilweise fernab von den bekannten touristischen Routen. War mit Student:innen aus Tunesien und Deutschland unterwegs von Tunis über Kairouan nach Matmata bis Tozeur, den Chott el-jérid durchquert nach Douz, dann weiter nach Gabes und wieder zurück nach Nasrallah, eine Kleinstadt südwestlich von Kairouan, unserem Basislager. Wìr haben atemberaubende Natur erlebt. Und so viele herzliche Familien, deren Gastfreundschaft wir genießen durften. Das Familienleben war darauf ausgerichtet, jeden Dinar zu sparen, wo es nur ging, um den Kindern eine Ausbildung oder ein Studium zu ermöglichen. Nicht nur, um während der Studienzeit für Lehrmaterial und Lebensunterhalt aufzukommen. Man brauchte erstmal Empfehlungen für einen Studienplatz - die kosteten...und eine Wahl, eine Vorliebe für ein Fach wurde nicht "bedient". Protestierten junge Menschen dagegen, forderten Meinungsfreiheit und freie Wahl des Studienfachs, war es nicht selten, dass sie vom Unrechtsregime Ben Alis verschleppt wurden. Jahrelang lies man verzweifelte Angehörige ohne Nachricht von ihren Kindern. Wenn sie zurückkehrten, durften sie meist ihren Wohnort nicht mehr verlassen, wurden gezwungen, sich täglich einmal bei der örtlichen Polizeiwache zu melden. So wurde uns das vertraulich geschildert in den 90ern. Parallelen zu heute, gibt es die? Ich kann es mir vorstellen. Was die Chancengleichheit für Alle betrifft, sicherlich. Das zehn Jahre nach dem arabischen Frühling. Sehr schade.