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Pladoyers im Lübcke-Prozess„Wo ist der wehrhafte Staat?“

Im Prozess zum Mord an Walter Lübcke rechnet dessen Familie mit dem Staat ab. Die Hinterbliebenen fordern die Höchststrafe für die beiden Angeklagten.

Die Familie von Walter Lübcke im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in Frankfurt am 12.01.2021 Foto: Thomas Lohnes/dpa

Frankfurt am Main taz | Es ist eine Abrechnung, die Holger Matt am Dienstag im Saal des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vollzieht. Der Anwalt der Familie Lübcke erinnert daran, wie vor dem Mord an Walter Lübcke gegen diesen folgenlos im Internet gehetzt wurde. Wie die zwei Rechtsextremen, die für den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten angeklagt sind, völlig ungestört mit Waffen trainieren konnten. Wie PolitikerInnen wie Erika Steinbach die Hasspostings gegen Lübcke teilten und so einen Nährboden für die spätere Tat schufen. „Da fragt man sich: Wo ist der wehrhafte Staat?“

Matt beantwortet die Frage gleich selbst: Es habe ihn nicht gegeben. Dem Verfassungsschutz attestiert er hier ein „Komplettversagen“, dem Staat eine Mitschuld an dem Mord, weil er die Hetze gegen den CDU-Mann nicht unterbunden hat. Bitter bemerkt der Anwalt: „Und da dachte man nach dem NSU, der Staat sei aufgewacht.“

Es ist ein fast wütender Auftakt des Plädoyers der Nebenklage im Prozess zum Mord an Walter Lübcke, der in der Nacht zum 2. Juni 2019 vor seinem Haus in Istha bei Kassel ermordet wurde. Seit Juni 2020 läuft dazu nun der Prozess, der sich nun in der Schlussphase befindet. Ende Januar soll ein Urteil fallen. Der Anwalt trat bisher eher zurückgenommen auf.

Die Familie von Walter Lübcke macht in ihrem Plädoyer am Dienstag klar: Sie wollen die Höchststrafe für den Hauptangeklagten Stephan E. Und sie wollen sie auch für einen zweiten Mann, weil er – anders als es die Anklage sieht – gleichwertig Mittäter gewesen sei: der Mitangeklagte Markus H., ein früherer Kumpel von E. und ebenso Rechtsextremist. Anwalt Matt spricht von einer „abscheulichen“ und „historischen“ Tat, der ersten Ermordung eines Politikers durch Rechtsextreme seit Jahrzehnten. Dies müsse sich auch in der Höhe des Urteils niederschlagen. Er fordert lebenslange Haft, mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, für beide.

Dass Stephan E. am Mord beteiligt war, ist unstrittig. An Tatort und Tatwaffe fand sich seine DNA. Der 47-Jährige gestand zunächst die Tat – aus Wut über die Kritik von Lübcke an Geflüchtetengegnern auf einer Kasseler Bürgerversammlung 2015. Dann aber behauptete er, sein Kamerad Markus H. habe geschossen, man sei zu zweit vor Ort gewesen. Im Prozess die erneute Kehrtwende: Man sei zwar zu zweit gewesen, aber Stephan E. habe doch selbst geschossen.

Diese Version hält Matt am Dienstag für die glaubwürdigste. Auch er sei am Anfang davon ausgegangen, dass Stephan E. allein am Tatort gewesen sei. Über Monate habe man im Prozess aber die Wahrheit herausgeschält, ganz am Ende auch mit spontanen, unverstellten Aussagen von Stephan E. „Wir glauben, dass E. uns die Wahrheit gesagt hat.“

Matt verweist auf zahlreiche Indizien, die Markus H. belasteten. So habe dieser nach der Bürgerversammlung einen Videoausschnitt von Lübckes Aussage verkürzt ins Netz gestellt. Er habe Stephan E. mit zu Schießtrainings und AfD-Demos genommen, mit ihm Istha ausgekundschaftet und sofort nach der Tat seine Threema-Chats mit E. gelöscht.

Auch sei nur mit einer Doppeltäterschaft erklärbar, warum der Todesschuss auf Lübcke von der Seite erfolgte: weil das Opfer durch eine zweite Person von vorne abgelenkt war – von H. „Ohne H. hätte es den Mord an Walter Lübcke nicht gegeben“, ist Matt überzeugt.

Nur: Das Gericht sieht es anders und entließ H. schon im Oktober aus der U-Haft. Einen dringenden Tatverdacht gebe es nicht mehr. Die Aussagen von E. seien „äußerst detailarm“, widersprüchlich und „nicht glaubhaft“. Und tatsächlich gibt es von H. keine DNA-Spuren am Tatort.

Institutioneller Rassismus bei den Ermittler:innen?

Auch die Bundesanwaltschaft hielt es in ihrem Plädoyer vor Weihnachten nicht für nachweisbar, dass Markus H. am Tatort war. Die Ankläger forderten für ihn dennoch eine Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten, da er Stephan E. zum Mord angestachelt habe, eine psychische Beihilfe. Für E. verlangte es die Höchststrafe: lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Die Anklage listet aber noch einen Vorwurf: Bereits im Januar 2016 soll Stephan E. in Kassel einen irakischen Geflüchteten niedergestochen haben, Ahmed I. Das Gericht hat auch hier Zweifel, die Beweislage ist erneut nicht ganz klar.

Stephan E. bestreitet die Tat. Alexander Hoffmann, der Anwalt von Ahmed I., verweist in seinem Plädoyer aber auf ein bei E. gefundenes Messer mit teilweisen DNA-Spuren von Ahmed I., einen früheren Messerangriff auf einen türkischen Imam, der auch hinterrücks erfolgte und auf die von Stephan E. selbst geschilderte Wut über die Kölner Silvesternacht am damaligen Tattag. Er selbst hatte den Ermittlern damals berichtet, an dem Tag einen „Ausländer“ bedroht zu haben.

„Wenn der Senat seine Arbeit ernst meint, muss er auch diese Tat verurteilen“, fordert Hoffmann. Und er wirft den Ermittler institutionellen Rassismus vor: Statt mit Empathie seien diese Ahmed I. mit Vorurteilen gegenübergetreten. Auch der 27-Jährige tritt noch einmal kurz ans Mikrofon, bedankt sich beim Senat für die Prozessführung. „Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt und die Verbrecher bestraft werden.“

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8 Kommentare

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  • Ein wirklich wehrhafter Staat wird mit dem GG als Fundament nie existieren.

    Der gegen jede Art von Extremismus und Rechtlosigkeit kann ein Staat nur dann wirklich wehrhaft vorgehen, wenn Polizei, Bundeswehr, Geheimdienste, generell die Exekutive, massiv mehr Rechte und Mittel bekommen.

    Das ist sicher nicht im Sinne des GG und der Menschen hier.

  • "dem Staat eine Mitschuld an dem Mord, weil er die Hetze gegen den CDU-Mann nicht unterbunden hat."

    Irgend wann sollte man halt mal kapieren, das man ohne totale Zensur und Kontrolle wie in China in einem Inter"national"-Net das eben nicht unterbinden kann. Mann kann es nur von populären Plattformen verbannen - wie Obdachlose aus Innenstädten. Deswegen verschwindet das aber alles nicht.

    • @danny schneider:

      Es ist unzulässig, Obdachlosigkeit in Zusammenhang zu Verbrechertum zu setzen.



      Obdachlosen kann man Alternativen anbieten, wenn die Kommune soziales Gewissen zeigt.



      (Rechte) Verbrecher kann man aufspüren, wenn man auf dem Auge nicht blind ist.



      Der Mord an einem Politiker sollte endlich Prozesse in Gang setzen, die man bei anderen Taten bisher zum Teil vermisst hat.

  • 9G
    96177 (Profil gelöscht)

    „Da fragt man sich: Wo ist der wehrhafte Staat?“

    Matt beantwortet die Frage gleich selbst: Es habe ihn nicht gegeben. Dem Verfassungsschutz attestiert er hier ein „Komplettversagen“, dem Staat eine Mitschuld an dem Mord, weil er die Hetze gegen den CDU-Mann nicht unterbunden hat. Bitter bemerkt der Anwalt: „Und da dachte man nach dem NSU, der Staat sei aufgewacht.“

    "Es habe ihn nicht gegeben".... nie, seit Anbeginn nichts als leise Integration der Massenmörder und ihrer Sachwalter; Verhinderung allenthalben - angeblich, weil sie gebraucht wurden. Nicht nur in der Justiz, in der Medizin, an den Unis vollkommene geräuschlose Übernahme der Täter, der Zukunft zugewandt. Es gab zwischendurch bessere Zeiten in der Republik, als z.B. die 68er ihre Eltern befragten. Wer fragt heute? Der Schoß ist fruchtbarer denn je ...

  • Die neue juristische Macht....die Nebenkläger.



    Gerade im Lübcke Prozess glaube ich die Staatsanwaltschaft weiß was sie tut. Die Medien geben den Nebenkläger eine ihnen nicht zustehende Machtposition/Stimme. Wenn es so weitergeht, lassen wir schleichend amerikanischen Verhältnisse zu. Gut, gut es ist nicht alles gut im deutschen Rechtsstaat...aber es wird nicht besser mit immer neuen Mitspieler.

    • @cosmoplitaBE:

      Warum dauert wohl ein Jura Studium mindesten 4,5 Jahren? Das deutsche Rechtswesen ist ein sehr beeindruckendes Ergebnis von Jahrhunderten Deutscher Geschichte.Es ist das beste Rechtssystem weltweit.Das sollte man nicht in den Dreck ziehen.Das bedeutet nämlich die deutsche Geschichte insgesamt in den Dreck zu ziehen.

    • @cosmoplitaBE:

      Die Rechte der Nebenklage sind in § 397 StPO umfassend geregelt und werden - im Vergleich zu den Rechten der Staatsanwaltschaft - durchaus begrenzt. Von einer "ihnen nicht zustehenden Machtposition" kann da gar keine Rede sein. Diesen Vorwurf könnte man als infam werten, wenn er nicht so lächerlich wäre.

      Und nebenbei... Das Recht zur Nebenklage ist gerade eines der Instrumente, die uns von amerikanischen Verhältnissen im Gerichtssaal abgrenzen. Die kennen derartige Rechte nämlich gar nicht.

  • 9G
    92293 (Profil gelöscht)

    Wie macht Hessen jetzt weiter? Gibt es einen Untersuchungsausschuß der Verfassungsschutz, Innenministerium und Polizeidienstliche Rechtslastigkeit überprüft oder fliegen einfach nur Temme und Bouffier aus ihrem gepolsterten Sessel? Die zwei sind vergleichbar eng wie Markus H und Stephan E die rechte Haltung ist eindeutig um ein Vielfaches schattierter und ihr Einfluß nicht nur größer sondern über Jahre verfestigt. Besser viel besser wäre gewesen der Mord wäre nicht geschehen, viel besser wäre gewesen Rechtsextreme könnten nicht so Jagd auf Einzelpersonen machen. Der vorherige Verfassungsschutzpräsident wußte um Stephan E hat dann aber leider den Dienst quittiert ... Oder wurde quittiert .... Bouffier willst du wirklich nochmal ran? Geh doch lieber auf Kumpantour mit Temme