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Strahlenbelastung in FukushimaZwischen Lüge und Selbstbetrug

Martin Fritz
Kommentar von Martin Fritz

Fast zehn Jahre nach der Reaktorkatastophe ist klar: Betreiber und Staat können ihr Aufräumversprechen nicht halten.

Besser nichts anfassen: die Reaktoren in Fukushima Foto: dpa

S chon wenige Monate nach den Kernschmelzen im Jahr 2011 in drei der sechs Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi trafen der Betreiber The Tokyo Electric Power Co., im Ausland bekannt unter dem Kürzel Tepco, und die japanische Regierung, damals schon der De-facto-Eigentümer des Stromkonzerns, eine Vereinbarung: den geschmolzenen Kernbrennstoff wolle man binnen eines Jahrzehnts aus den zerstörten Meilern bergen.

Schon damals schüttelten Kenner angesichts des ehrgeizigen Zeitplans den Kopf. Man vermutete bereits kurz nach der Katastrophe, dass die geschmolzenen Reaktorkerne zumindest teilweise aus ihren Druckbehältern ausgetreten und in die Sicherheitsbehälter geflossen waren. Sollte dieses Szenario stimmen, gäbe es keine bestehende technische Lösung, um das strahlende Material, Corium genannt, aus den Meilern herauszuholen.

An dieser Einschätzung hat sich bis heute, rund zwei Monate vor dem zehnten Jahrestag der Katastrophe, wenig geändert. Doch japanische Institutionen geben keine Fehler zu, sondern weichen ihnen aus. Psychologisch formuliert: Man steckt den Kopf in den Sand und betrügt sich selbst. Negativ formuliert: Man lügt auf Deubel komm raus, weil niemand die Verantwortung für die Folgen eines Geständnisses übernehmen will.

Nun holt die Wirklichkeit die Selbstbetrüger oder Lügner von Tepco und Regierung ein, wie immer man sie sehen will. Die Hoffnung auf eine erfolgreiche Corium-Bergung, indem man die Meiler mit Wasser flutet und die Betondeckel der Sicherheitsbehälter öffnet, hat sich zerschlagen. Der Grund: Bei zwei der drei Reaktoren strahlt dieser 1,80 Meter dicke Schutzschild so stark, dass man den dreischichtigen Deckel besser nicht hochheben sollte.

Allein die Tatsache, dass Tepco und die neue Atomaufsichtsbehörde zehn Jahre für diese Erkenntnis gebraucht haben, verrät das unglaubliche Ausmaß von Lüge und Selbstbetrug. Doch wirklich überraschend ist dieses Verhalten nicht. Die unendlich teuren Folgen finanzieren japanische Steuerzahler und Stromkonsumenten.

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Martin Fritz
Auslandskorrespondent Japan/Südkorea
Volontariat beim NDR. War Hörfunk-Korrespondent in Berlin während der deutschen Einheit. Danach fünf Jahre als Südasien-Korrespondent in Neu-Delhi. Berichtet seit 2001 aus Tokio über Japan und beide Koreas.
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4 Kommentare

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  • Eine Frage von einem Laien:



    Warum pumpt man das Kühlwasser nicht mehrfach (nach dem Abkühlen) durch den Reaktor zum Runterkühlen der Brennstäbe ?



    Denn ob es ein wenig oder mehr kontaminiert ist, was für eine Rolle spielt das denn noch ?



    Versaut ist das Wasser ja schon beim ersten Durchlauf......!

    • @kalleM:

      Weil die Temperatur o.k. ist.

      Das Problem ist die Strahlung und die Anforderung, bei der Aktion nicht zu viel Atommüll in die Umgebumg zu lassen.

      • @Sonntagssegler:

        Zumal im Reaktor nicht mehr viel intakt ist an Leitungen etc. Einmal drinnen, ist es nicht mal einfach so wieder rauszubekommen. Es sei denn, unten sind genug Risse, dass es ins Grundwasser abfließt, inklusive allem was es auf seinem Weg so mitgenommen hat.

  • Es gibt Anzeichen dafür, dass in den Reaktoren von Fukushima genau das passiert ist, was 1979 in Harrisburg / Three Mile Island laut Publikationen der Kernenergiewirtschaft wohl gerade noch verhindert wurde: Eine Zerstörung der Strukturen des Reaktorkerns und eine Schichtung geschmolzenen spaltbaren Materials, das wieder kritisch wurde und die Kettenreaktion infolgedessen weiter schwelte. Jeder, der die Diskussion in den achtzigern verfolgt hat, wird realisieren, wie gründlich die Atomindustrie mit den Bildern aus Fukushima diskreditiert wurde, wurde doch immer (bis zur Risikostudie Phase B der GRS[2]) beteuert es sei unmöglich, dass Atomkraftwerke explodieren.

    Wir wissen immer noch über die Folgen niedrig dosierter aber weit verteilter radioaktiver Strahlung sehr wenig. Die Beobachtung des Leukämieclusters Elbmarsch und die Ergebnisse der anschließenden Kinderkrebsstudie sind mit den etablierten Modellen zur Wirkung nicht zu erklären. Auch die zu beobachtenden Strahlenschäden an Insekten in verseuchten Gebieten[3] passen nicht zu den herkömmlichen Modellen. Aber anstatt man, wie das Wissenschaftler tun, den Schluss zieht dass dieses Modelle nicht gut genug sind und man andere Ansätze evaluiert, hält man aus politischen Gründen an den überholten Modellen fest. Das Desaster in den meisten europäischen Ländern um die Eindämmung der Corona-Pandemie zeigt eindrucksvoll, wie gefährlich so ein Vorgehen ist.

    Dabei gibt es den interessanten "epigenetischen" Erklärungsansatz zu den Auswirkungen von ionisierender Strahlung während der Embryonalentwicklung. Hier mal ein Link:

    scholar.google.com...ng+radiation&btnG=

    [1] en.wikipedia.org/w...le_Island_accident



    [2] www.grs.de/content...kraftwerke-phase-b



    [3] www.smithsonianmag...fallout-180951231/