: Groundhopping für die Fan-Seele
Stadien, Kneipen, Häuser: An 400 Orte in Norddeutschland, die das Kickerherz berühren, erinnert eine Reihe des Arete-Verlag – und beweist: Heimat ist da, wo der Ball rollt
Von Ralf Lorenzen
Manche Bücher kommen einfach zu spät. Da geht einer 20 Jahre lang in Hamburg fast täglich über die Julius-Leber-Straße am Bolzplatz Ecke Goetheallee vorbei durch den Park Richtung Max-Brauer-Allee und erfährt erst nach seinem Wegzug, welchen bedeutenden Ort er da tausende Male links liegen gelassen hat. Dass dort an der Grabbestraße die Fußballer-Familie Dörfel gelebt hat, mit Vater Friedo, Bruder Richard, den Söhnen Gert und Bernd, allesamt HSV- und bis auf Richard auch Nationalspieler.
„Mit seinen Kumpels gründete Gert den Straßenfußballklub FC Lessing, für den der dem Zuhause nahegelegene Lessing-Tunnel Pate stand. Als Spielort diente ein Grand-Platz an der Max-Brauer-Allee“, heißt es im vor Kurzem erschienen Buch „Fußballheimat Hamburg – 100 Orte der Erinnerung“. Mit den Dörfel-Brüdern, Harry Bähre, Jürgen Wähling und zwei anderen Kumpels stellte die Clique ein halbes Dutzend späterer Bundesliga-Spieler. Wer in Deutschland nach einem Kultort des Straßenfußballs sucht, dessen Verschwinden so beklagt wird, wird in Altona-Nord fündig.
Zusammen mit dem fast zeitgleich erschienen Band „Fußballheimat Schleswig-Holstein“ ist eine Buch-Reihe im hohen Norden angekommen, die der Hildesheimer Arete-Verlag vor drei Jahren in Franken begann und in der Anfang vergangenen Jahres die Bände zu Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen/Bremen erschienen sind.
Urbane Legenden
Der kleine, ambitionierte Verlag hat sich einem Programm an den Schnittstellen von Geschichte, Kultur und Sport verschrieben, das diese sporthistorischen Reiseführer unterhaltsam und fundiert einlösen. Sie stellen nicht nur Verbindungen zwischen Rändern und Zentren her, zwischen Stadt und Land, sondern zwischen Sphären, die im Alltag nur noch wenig miteinander zu tun haben, wie der Straßen- mit dem Bundesliga-Fußball. „Eigentliches Anliegen aber ist, Vergangenheit mit Gegenwart zu verbinden“, schreibt Hardy Grüne in dem von ihm verfassten Band über Niedersachsen/Bremen.
Besonders enge Verbindungen zwischen den Lebens- und Fußballwelten sind im großstädtischen Raum entstanden. In Hamburg gibt es neben den großen Stadien wie dem Millerntor und dem Volkspark jede Menge andere historische Spielstätten. Die Adolf-Jäger Kampfbahn, das Hoheluft-Stadion, das Billtalstadion oder längst verschwundene Kultstätten wie das Stadion Marienthal haben ihre eigenen Geschichten und Legenden hervorgebracht.
Es sind Legenden, die in Fankneipen, Gaststätten, Hotellobbys, Tabakgeschäften, TV-Studios, Medienhäusern und auf Elbfähren weitergesponnen werden; Legenden wie die vom FC-St.-Pauli-Torwart und Barkassenkapitän Ludwig „Lutn“ Alm, dessen Frau Erna sich um 1950 Peter nannte, um ihrem Mann hinter dem Tor anfeuern zu dürfen. Ihre Barkasse, mit der immer noch Touristen durch den Hafen geschippert werden, erhielt den gleichen Namen.
Keine Romantisierung
Der Hamburg-Band, der zeitlich vom ersten Fußballspiel im Johanneum um 1876 bis zur Auslosung zur EM 2024 in der Elbphilharmonie reicht, lebt stark vom Anekdotenschatz, den die Autoren Broder-Jürgen Trede und Ralf Klee gesammelt haben. Den montieren sie mit ihrem Hintergrundwissen zu einseitigen Miniaturen, denen jeweils eine Fotoseite gegenübergestellt ist.
Die Bilder zeigen meist das historische und das aktuelle Gesicht des jeweiligen Ortes. So wird Veränderung sichtbar: von Grant- zu Kunstrasenplätzen, von Sport- zu Wohnanlagen, von „köhmbefleckten Tresen aus dunklem Echtholz“ zu Museumsobjekten. Der Gefahr der Romantisierung entgehen die Autoren durch zahlreiche zeitgeschichtliche Bezüge. Sie erinnern auch an den gewaltsamen Tod des 16-jährigen Werder-Bremen-Fans Adrian Maleika, der 1982 von gewalttätigen HSV-Fans im Volkspark mit einem Stein am Kopf getroffen und am Boden liegend zusammengetreten wurde.
Einige Orte beleuchten die Verbindung des Fußballs mit dem Nationalsozialismus, wie das Curiohaus, wo HSV-Stürmer und NS-Verbrecher Tull Harder 1947 von der britischen Militärregierung zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde – von denen er dann nur vier verbüßte. Ein Erinnerungsort ist der KZ Gedenkstätte Neuengamme gewidmet, wo „40 bis 60 Häftlinge in vier Mannschaften gegeneinander gespielt haben“ sollen.
Von Dorfkrug zu Dorfkrug
Der von Alexander Schäfer verfasste Schleswig-Holstein-Band führt aus dem Getriebe der Großstadt aufs weite Land. Und aufs Meer. Vom nördlichsten Fußballplatz Deutschlands in List auf Sylt bis zum Hermann-Wisser Stadion auf Fehmarn sind die Geschichten und Lokalderbys nicht weniger spannend, aber sie brauchen länger auf dem Weg von einem Dorfkrug zum nächsten und verbleiben oft in der lokalen Oral History. Entsprechend geht dieser Band journalistischer vor und basiert neben dem Anekdoten- und Faktenwissen des Autors auf zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen.
„Das hier ist sicherlich das Stadion mit einer der spektakulärsten Aussichten in ganz Schleswig-Holstein“, sagt da Niels Jensen, Hausmeister beim TSB Flensburg. Das Foto mit dem malerischen Blick von der Arena an der Eckener Straße auf die Förde gibt ihm recht. Es mag damit zu tun haben, dass Schleswig-Holstein als einziges der alten Bundesländer noch nie einen Erstliga-Klub hervorgebracht hat, dass die Neigung zu Superlativen besonders stark ausgeprägt ist.
Neben dem nördlichsten Platz und der spektakulärsten Aussicht begegnen einem dabei der kleinste Torwarttrainer Deutschlands (Lutz Maschow, SV Börnsen), der älteste Trainer Europas (Willi Weidenstraß, FC Dänschendorf/Fehmarn) sowie der schönste Fußweg zum Stadion (Waldeck-Stadion, Eutin).
Noch mal gefeiert werden die Pokalfeste, wenn hoher Besuch nach Hoisdorf oder Kappeln kam. Öfter kamen die Stars aber, um Kraft zu tanken, wie die porträtierten Sportschulen, Hotels und Reha-Einrichtungen in Malente, Glücksburg und Damp zeigen. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal für den hohen Norden ist die Bedeutung, die der Frauenfußball in vielen kleinen Klubs wie dem Schmalfelder SV früh erlangte.
Wehmut kommt auf, wo durch Strukturwandel und Fusionen alte Vereinsnamen und Spielstätten von der Landkarte verschwunden sind. An nicht alle können die Bände der Reihe die Erinnerung retten – gerade die ganz kleinen Orte sind etwas unterrepräsentiert. Dennoch kommen sie gerade richtig – als Einladung, sich die Geisterspielzeit mit Besuchen an Orten zu vertreiben, wo der Nachbar einst zum Popstar wurde, weil er den Heimatverein in die Bezirksliga schoss.
„Fußballheimat Hamburg“ sowie „Fußballheimat Schleswig-Holstein“: Arete-Verlag 2020, jeweils 216 S. mit 100 Farbfotos, 18 Euro.
Erschienen sind ebenfalls im Arete-Verlag „Fußballheimat“-Bücher über Bremen/Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern
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