: Der Danziger in 3-D
Das Lübecker Günter-Grass-Haus entdeckt die Virtualität: Ein frisch eingeweihtes digitales Angebot will über die Zeit hinweghelfen, da das Museum nicht betreten werden kann
Von Alexander Diehl
Nöte und Tugenden: Nicht ohne Stolz trat das Lübecker Günter-Grass-Haus an die (sozial distanzierte) Öffentlichkeit: Man habe die vergangenen Wochen genutzt, um die eigenen Bestände, Sie ahnen es: „umfassend digital aufzubereiten“. Und das Ergebnis „kann sich sehen lassen“, befanden die Verantwortlichen am Freitag: Die nun bereitstehende Online-Sammlung ermögliche 126 bebilderte Werke von Günter Grass abzurufen, dazu kommt ein „digital inszeniertes Archiv“mit knapp 50 Exponaten aus dem Hausbestand.
Manuskripte, Zeichnungen, Werkpläne und Skulpturen Grass’also können Nutzer:innen ab dem heutigen Tag per Klick am heimischen Rechner „quasi“ zum Leben erwecken: Interaktive, dreidimensionale Animationen, so der Anspruch, beleuchten das bildkünstlerische und literarische Werk des gebürtigen Danzigers (1927–2015) aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Wer es lieber etwas bodenständiger bevorzugt: Exklusiv für das neue virtuelle Archiv wurden auch Filme produziert. Darin treten schreibende Kolleg:innen des Namenspatrons auf, etwa Cornelia Funke oder T. C. Boyle; der US-Autor erzählt vom Einfluss des Geehrten auf sein eigenes Werk. Aber auch weniger erwartbare Promis haben offenbar etwas beizutragen gehabt zum vollständigeren Bild des Grass’schen Schaffensprozess: Die Schauspieler:innen Anna Thalbach und Jan Josef Liefers lesen Prosastücke; dass aber ausgerechnet der TV-Wissenschaftsvermittler Ranga Yogeshwar eine Indien-Anekdote erzählt – das globalisierungskritische Werk „Zunge Zeigen“ sei nach Grass’Reise auf den Subkontinent 1986 entstanden? Nun ja.
„Die Digitalisierung unserer musealen Sammlungen ist ein Großprojekt“, so Hans Wißkirchen, Leitender Direktor der Lübecker Museen unter Hinweis auf die finanzielle Unterstützung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Dass das digitale Archiv gerade jetzt fertig werde, „lag mir besonders am Herzen“, so Wißkirchen: „Können wir damit unseren Besucher:innen im Lockdown doch eindrucksvoll deutlich machen, dass wir auch während der Schließungen nicht untätig sind und ihnen gleichzeitig auch ohne analogen Museumsbesuch einen echten Mehrwert bieten.“
Etliche Themen, mit denen sich der Literaturnobelpreisträger von 1999 beschäftigt hat, fanden Berücksichtigung: Umweltschutz, Rechtsextremismus oder auch Flucht und Vertreibung. Wie und warum Grass etwa die Arbeit des Rettungsschiffs „Cap Anamur“ im Mittelmeer unterstützt hat, das verdeutlicht ein Gespräch, das der bekannte Literaturkritiker Denis Scheck mit Stefan Schmidt geführt hat, dem Beauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen des Landes Schleswig-Holstein. Dass freilich auch im Leben eines Nobelpreisträgers mancher Plan unvollendet bleibt, erzählt der Filmemacher Volker Schlöndorff nun am Beispiel eines Stummfilms, den er mit Grass habe drehen wollen – Thema: „Wald“.
Einerseits der Jahreszeit gemäß, aber durchaus am kuriosen Rand des hier zu findenden Spektrums: ein literarischer virtueller Kochkurs. Nach einem Klick auf das Manuskript zu „Beim Häuten der Zwiebel“ lässt sich Fernsehkoch Johann Lafer dabei zusehen, wie er ein Gericht zubereitet, das Grass in seinem imaginären „Kochkurs für Anfänger“ in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft beschreibt. Zudem erfahren wir, warum der Autor „Keine Gans ohne Beifuß“ in den Ofen geschoben habe.
Kaum überraschend: Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau zeigte sich demonstrativ erfreut. Gerade in schwierigen Zeiten könnten „Grass-Fans und diejenigen, die es noch werden“, versorgt werden. „Es geht uns darum, Museumsbestände zeitgemäß verfügbar zu machen und zu präsentieren. Wir wollen mit der digitalen Welt Lust auf das authentische, reale Erleben im Günter-Grass-Haus für die Zeit nach Corona machen.“
Dessen Leiter Jörg-Philipp Thomsa unterstrich am Freitag, wie viele namhafte Künstler:innen für die Zusammenarbeit gewonnen werden konnten. Das mache klar, „welchen Einfluss Günter Grass auch heute noch hat“.
www.grass-haus.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen