Forscher über Bildungsungerechtigkeit: „Wir müssen das System rütteln“
Soziale Herkunft und Bildungserfolg hängen nicht erst seit Corona zusammen, sagt Kai Maaz. Er fordert eine Diskussion über Ziffernoten.
taz: Herr Maaz, Sie leiten eine Kommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Empfehlungen gegen Bildungsbenachteiligung während der Coronapandemie entwickeln soll. Wie sehr verstärkt die Pandemie Unterschiede zwischen privilegierten und weniger privilegierten Schüler:innen?
Kai Maaz: Im internationalen Vergleich gibt es Studien, die darauf hindeuten, dass die Lernrückstände größer ausfallen könnten. Für Deutschland können wir noch keine verlässlichen Zahlen liefern, inwieweit sich diese Schieflage derzeit verstärkt. Den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg gibt es aber nicht erst seit Corona.
Wenn aus den Bundesländern noch keine Daten zu Lernrückständen vorliegen – auf welcher Grundlage wollen Sie und Ihre Kommission den Politiker:innen dann Ihre Empfehlungen aussprechen?
Der entscheidende Punkt ist, dass es seit Jahrzehnten eine Schieflage im System gibt. Und wir haben es in den letzten Jahren trotz vieler Bemühungen nicht geschafft, diese richtig anzugehen. Wir müssen überlegen, wo da möglicherweise Schwachstellen waren.
Welche Schwachstellen sehen Sie denn?
Es gibt ausgesprochen gute Ideen und Projekte gegen Bildungsbenachteiligung, die aber alle sehr punktuell und nicht miteinander vernetzt sind. Möglicherweise ist es deshalb schwierig, dass die einzelnen Projekte ihre Wirkung entfalten können. Und: Viele dieser Projekte setzen an Stellen an, an denen Ungleichheiten empirisch messbar werden, etwa am Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule. Dort entstehen die Ungleichheiten aber nicht, das heißt, wir müssen viel früher ansetzen.
Wieso sollte es gerade in einer Zeit, in der die Schulen darum kämpfen, halbwegs normal zu funktionieren, gelingen, die Unwucht im System zu beseitigen?
Vielleicht ist das genau die Falle, dass wir versuchen, unter diesen Bedingungen normal zu funktionieren. Das geht eigentlich nicht. Wir müssen uns dieser besonderen Situation noch viel expliziter stellen. Wir dürfen Normalität nicht vorgaukeln, wenn die schulische Praxis weit weg davon ist.
Das heißt: Raus aus dem Regelunterricht, weg von der Schule nach Plan?
Ich finde es wichtig, das System jetzt zu rütteln. Und zu schauen, wo haben wir uns in den letzten Jahren nicht genug bewegt, wo lagen Chancen, die wir nicht ergriffen haben. Seit der ersten Pisa-Studie sind fast 20 Jahre vergangen. Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschancen ist in den vergangenen 20 Jahren relativ stabil geblieben. Wir können uns nicht noch einmal 20 Jahre Stillstand leisten. Das ist auch eine Frage der Potenzialausschöpfung, die uns nicht gelingt.
Und woran liegt das?
Möglicherweise, weil es uns nicht gelingt, mit der größten Herausforderung im Bildungsbereich umzugehen: nämlich eine kluge Antwort auf Heterogenität in Lerngruppen zu geben. Wenn Kinder in dieser Phase der krisenbedingten Beschulung ungleich lernen – die leistungsstärkeren, erst recht wenn sie aus sozial privilegierten Familien kommen, lernen vielleicht noch ein bisschen dazu, die leistungsschwachen aus den sozial problematischen Familien lernen noch weniger dazu – dann wird die Spreizung größer. Es ist eine wahnsinnige Herausforderung für die Lehrkräfte, mit dieser Heterogenität angemessen umzugehen.
Im Frühjahr leiteten Sie eine Kommission, die Empfehlungen für das Schuljahr 2020/21 gab. Ihr Ratschlag lautete, nicht davon auszugehen, dass dies ein normales Schuljahr wird, sondern rechtzeitig zu überlegen, wie Lehrpläne gekürzt und Prüfungsinhalte reduziert werden können. Ist alles nicht passiert. Sind Sie frustriert, dass die Politik nicht auf Sie hört?
Nein, das frustriert mich nicht. Sonst wäre ich ja nicht bereit, eine weitere Kommission zu leiten. Meine Wahrnehmung ist eine andere. Die Veröffentlichung der ersten Empfehlungen stieß auf offene Ohren, auch in Politik und Verwaltung und in den Schulen. Dass das nicht eins zu eins umgesetzt wird, ist völlig klar. Hier geht es eher darum, dafür zu sensibilisieren, darüber nachzudenken, ob das Prüfen in der Breite, wie wir es tun, wirklich zielführend ist. Vielleicht können wir mehr in die Tiefe gehen.
Also weniger abprüfen, ohne dass der Anspruch sinkt. Wie soll das kurzfristig funktionieren?
Man kann jetzt versuchen, pragmatische Lösungen zu finden. Pragmatisch ist der Leitsatz: Man kann nur prüfen, was im Unterricht behandelt wurde. Und wenn mathematische Lehrsätze jetzt nicht behandelt werden können, dann können sie auch nicht Gegenstand von Prüfungen sein. Das muss nicht bedeuten, dass Prüfungen einfacher werden, sondern sie fokussieren sich dann auf bestimmte Bereiche.
Das wäre allerdings die Abkehr von bundesweit einheitlichen Prüfungsaufgaben. Dann prüft jede Lehrkraft wieder für sich ab, was die Klasse im Unterricht durchgenommen hat.
Ja, das ist eine Gratwanderung. Wir dürfen Errungenschaften bei der Sicherung von Bildungsstandards nicht einfach über den Haufen werfen. Aber es ist doch völlig einleuchtend: Wenn eine Klasse zweimal in Quarantäne war, kann ich nicht das gleiche abzuprüfende Wissen voraussetzen wie bei einer Klasse, die ohne Infektionsfälle durch das Schuljahr gegangen ist.
Während der Schulschließung im Frühjahr haben viele Länder eine Art Bonus gegeben: Noten wurden nur erteilt, wenn Schüler:innen sich verbessern konnten. Ist ein Coronabonus auch jetzt sinnvoll?
Man sollte schauen, welche alternativen Bewertungsmethoden es gibt, die unterschiedliche Arbeitsweisen honorieren. Ich würde gern eine grundsätzliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Ziffernnoten führen. Von Eltern kommt dann oft die Reaktion, nehmt uns nicht die Noten weg, die sind für unsere Kinder ganz wichtig. Ich denke dann immer: Schade, es gäbe viele andere Möglichkeiten, Kinder zu motivieren und ihre Leistungsentwicklungen zu dokumentieren.
Zum Beispiel?
Wir hatten schon in unserem ersten Papier empfohlen, Formen des individuellen Feedbacks zu stärken, um Kindern eine Rückmeldung zu geben, wo sie stehen. Wenn solche Anregungen in den Diskurs kommen und die Coronawelle überstehen, wäre viel gewonnen.
Sind Sie optimistisch, dass das passiert?
Eine Kollegin aus Rheinland-Pfalz hatte da neulich ein schönes Bild von einem Hühnerstall. Corona hat uns erreicht wie ein Blitzschlag. Die Hühner rennen wie wild durcheinander. Doch nach relativ kurzer Zeit sitzt jedes Huhn wieder an dem Platz, wo es vorher saß. Und alles geht weiter wie zuvor. Genau das darf jetzt nicht passieren. Es darf kein „Weiter so“ geben.
Welche Chancen sind es, die man jetzt ergreifen sollte?
Wir diskutieren gerade das Thema Ganztag. Es gab einen extremen Ausbau und ab 2025 sollen Grundschüler:innen eigentlich einen Rechtsanspruch haben. Man verbindet mit dem Ganztag immer die Hoffnung, dass er Ungleichheiten abbaut. Es gibt aber keine durchgehend guten Ideen, wie Ganztag kompensatorisch wirken soll. Wenn die Pädagog:innen am Nachmittag nicht wissen, was die Lehrkräfte am Vormittag in der Schule machen, und die umgekehrt nicht wissen, was am Nachmittag läuft, dann wird das nicht funktionieren. Wir müssen über Qualität reden, über Konzepte und Aufgaben und darüber, was man dafür an Personal braucht. Darüber wird aber nicht geredet, sondern es geht hauptsächlich um Freizeit- und Betreuungsangebote.
Die Länder streiten derzeit untereinander und mit dem Bund über die Finanzierung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung. Braucht es nicht mehr Steuerung von oben und damit mehr Einheitlichkeit?
Ich glaube nicht, dass wir eine bundesweite Regelung für den Ganztag brauchen. Aber wir brauchen bundesweite Standards für den Ganztag und für die Fortbildung. Und die Länder sollten ihre Verantwortung stärker wahrnehmen und gemeinsam überlegen, welche Modelle funktionieren und welche nicht. Damit Eltern und Schüler:innen den Föderalismus wirklich als Stärke und nicht nur als Durcheinander erleben.
Die Bildungsausgaben betrugen 2018 rund 218 Milliarden Euro. Das ist viel Geld. Ist es dennoch zu wenig? Oder ist es falsch verteilt?
Wenn wir zusätzlichen Bedarf haben, ist es natürlich naheliegend, auch zusätzlich Geld zu investieren. Aber Geld allein reicht nicht aus. Wenn es speziell um die Förderung von leistungsschwachen Schüler:innen und Kindern aus sozial unterprivilegierten Familien geht, dann muss der Grundsatz gelten: Ungleiches ungleich behandeln. Das heißt, Ressourcen müssen sehr ungleich im System verteilt und in die Förderung dieser Gruppen verstärkt investiert werden.
Was passiert, wenn es nicht gelingt, die Chancen im Bildungssystem gerechter zu verteilen?
Wenn ich mir im Bildungsbericht anschaue, wie sich die Gruppe derjenigen ohne Schul- und ohne Berufsabschluss in den letzten Jahren entwickelt hat, ist das Erschreckende, dass der Anteil unerfreulich hoch geblieben ist. Der Anteil der Schulabgänger:innen ohne Abschluss steigt seit 2014 sogar wieder und auch der Anteil der leseschwachen Schüler:innen liegt heute kurz unter dem Niveau des Jahres 2000. Das ist eine der wirklichen Baustellen. Da geht es nicht allein um Zertifikate, sondern um Lebenschancen und die Möglichkeit, an Gesellschaft zu partizipieren. Und wenn es uns nicht gelingt, allen diese Möglichkeiten zu eröffnen, dann ist das meines Erachtens ein gesellschaftliches Problem.
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