: Die Chance zu Alternativen
Die Linkspartei zwingt die etablierten Parteien dazu, sich mit der Forderung nach mehr Gerechtigkeit auseinander zu setzen. Der neoliberale Konsens wird endlich zerstört
Bild war empört; breit prangte der Skandal auf der Titelseite: Angeblich hatte VW seinen Betriebsräten sogar Viagra spendiert! Dies ist bis heute nicht erhärtet, aber auch unerheblich. Bemerkenswert ist vielmehr, dass kostenloses Viagra zum Skandal taugt. Das ist mehr als nur amüsierter Voyeurismus – da drückt sich ein Gefühl der Benachteiligung aus. Ein Land muss schon sehr aus dem Gleichgewicht geraten sein, um die Gerechtigkeitsdebatte sogar über Erektionsmittel zu führen.
In Umfragen geben inzwischen 40 Prozent der Deutschen an, dass sie glauben, demnächst ökonomisch abzusteigen. 90 Prozent meinen, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. „Immer mehr Menschen in diesem Land haben Angst.“ So beginnt, nicht zufällig, das WASG-Kurzprogramm.
Auf diese Ängste muss die Politik eingehen. Doch bisher reagieren die etablierten Parteien nur oberflächlich. Die SPD plant eine Millionärssteuer, die 1,7 Milliarden Euro bringen soll. Und die Grünen sind nun auch dafür, das Arbeitslosengeld II im Osten auf das Westniveau aufzustocken. Das taugt noch nicht einmal als Symbolpolitik.
Die etablierten Parteien scheinen nicht zu verstehen, was passiert. Erneut inszenieren sie einen „Lagerwahlkampf“, von dem sie glauben, dass die Fronten klar seien: Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb. Die Linkspartei nehmen sie höchstens demoskopisch ernst. Aber eigentlich halten sie die linken Wähler für irregeleitet und das Projekt für einen bedauerlichen Irrtum der Geschichte, der nur möglich wurde, weil Lafontaine und Gysi begabte Rhetoriker sind.
Wenn die Parteien auf diesem Diskussionsniveau verharren, dann dürfte die jetzige Bundestagswahl die letzte „normale“ Abstimmung gewesen sein, in der schon vorher klar ist, dass eine Koalition der Etablierten die Regierung stellen wird. Spätestens bei der nächsten Wahl 2009 werden sich die Wähler ratlos fragen, was sie wählen sollen. Rot-Grün, wie wir es jetzt kennen, wird sozialpolitisch noch immer in schlechter Erinnerung sein – und die Union dürfte dann gerade fulminant versagt haben. Denn das Programm des „Weiter so“ wird nicht funktionieren. Es belebt die Wirtschaft nicht, auf Kombilöhne zu setzen. Auch Steuergeschenke steigern die Konsumlaune nicht. Das hat Rot-Grün schon alles ausprobiert.
Falls die etablierten Parteien das Thema Gerechtigkeit nicht entdecken, sind sie 2009 allesamt diskreditiert. Das würde den Raum nach rechts erstmals weit öffnen. Für die populistische Rechtsdrift wäre es nicht unbedingt nötig, neue Parteien zu gründen – Nachbarn wie die Niederlande zeigen, wie sich in wenigen Jahren das ganze Spektrum verschieben kann.
Die Linkspartei ist heilsam. Schockiert von den Umfragen kündigen nun alle Konkurrenten an, dass sie sich „ernsthaft“ mit den linken Argumenten auseinander setzen wollen. Das ist immerhin ein Anfang, obwohl die etablierten Parteien unverdrossen arrogant bleiben: Sie meinen noch immer, dass sie nur mal kurz ins Programm der Linkspartei gucken müssen, um es medienwirksam zu zerpflücken.
Tatsächlich scheint es leicht zu sein, die Linken lächerlich zu machen, formuliert ihr Programmentwurf doch vor allem Visionen: Da wird ein Mindestlohn von 1.500 Euro gefordert oder die 30-Stunden-Woche angepeilt. Das ist weit weg von der Logik des TINA-Prinzips, dass es keine Alternative zum bestehenden Sachzwang gebe.
Diese Alternativlosigkeit des „Weiter so“ würde die meisten sogar überzeugen, wenn es denn weiter so gehen könnte. Die etablierten Parteien ignorieren, dass die Linkspartei nur möglich wurde, weil sie sich selbst in einem Paradox verheddert haben. Stets haben sie die Notwendigkeiten des Marktes beschworen – und ihn dabei stranguliert. Inzwischen hat sogar das neoliberale Ifo-Institut bemerkt, dass Deutschland ein Problem mit der Binnennachfrage hat. Daher sei ein Wachstumsschub nicht zu erwarten, selbst wenn die CDU regiert.
Doch nicht nur das Zukunftsversprechen Wachstum ist höchst ungewiss, schon die Gegenwart gestaltet sich ungemütlich. Es wird der Union keinen Spaß machen, zu regieren.
Beispiel Renten: Nur durch einen Trick blieb die Pleite diesmal aus – die Firmen müssen nun zwei Wochen früher die Sozialabgaben überweisen. Doch damit ist die letzte Reserve verbraucht. Auch Nullrunden für die Rentner gab es bereits mehrmals.
Beispiel Bundeshaushalt: Rot-Grün hat gut geplant, denn die letzten Vermögensreste sind aufgebraucht, wenn die Union übernimmt. Künftig wird das offizielle „strukturelle“ Defizit bei 50 Milliarden Euro jährlich liegen, tatsächlich dürfte es via Nachtragshaushalt mindestens 70 Milliarden Euro erreichen.
Beispiel Arbeitslose: Die deutsche Wirtschaft war im letzten Jahr Exportweltmeister – dennoch sank die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze um etwa 330.000.
Der Union fällt dazu nur ein, dass sie „die Menschen zu Gewinnern der Globalisierung machen will“. Übersetzt: Der Exportweltmeister soll noch mehr exportieren. Hilfloser kann ein Parteiprogramm auf Probleme nicht reagieren.
Die etablierten Parteien propagieren die Alternativlosigkeit. Dabei gilt inzwischen: Es ist alternativlos, dass Alternativen entstehen. Der Sachzwang favorisiert nicht mehr die etablierten Parteien – aber die Linken.
Das ist neu. Egalitäre Konzepte galten bisher oft als verträumtes Gutmenschentum – als Moralismus, der die Realitäten verkennt. Doch nun beginnt sich die Beweislast zu verschieben. Plötzlich steht die Union unter Ideologieverdacht: Sie wird erklären müssen, warum sie so halsstarrig glaubt, dass ein gesenkter Spitzensteuersatz das Wirtschaftswachstum fördert, obwohl genau diese Idee in den letzten Jahren versagt hat.
Endlich werden die Diskurse wieder interessant – gerade auch im Fernsehen. Es verändert die TV-Männerrunden, wenn jetzt auch Linksvertreter erscheinen dürfen. Der neoliberale Konsens ist gestört, dass Ungerechtigkeit leider sein muss.
Aber ist Gerechtigkeit finanzierbar? Mit dieser Frage werden die etablierten Parteien kontern. Damit unterstellen sie, dass Ungerechtigkeit billig ist. Doch kann sie sehr teuer sein. Erneut das Beispiel Staatshaushalte: Rot-Grün hat jährlich 60 Milliarden Euro an Steuern verschenkt; die Etatlöcher werden nun durch Kredite gestopft. Für Vermögende ist das doppelt profitabel: Was sie früher an Steuern zahlten, verleihen sie jetzt an den Staat – und erhalten dafür Zinsen.
Die Skandinavier machen vor, wie es besser geht: Sie haben niedrige Unternehmensteuern, die international konkurrenzfähig sind. Dafür kassieren sie bei den Eignern ab – mit hohen Spitzensätzen bei der privaten Einkommensteuer. Das soll keine Neidstrafe für die Reichen sein. Doch ein Staat braucht Mittel, um in Forschung, Bildung und Pflege zu investieren und dort Arbeitsplätze zu schaffen. Was immer man von der Linkspartei hält: Ihr ist zu verdanken, dass Alternativen erstmals eine Chance erhalten. ULRIKE HERRMANN
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