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Bildhauerinnen aus der TürkeiDas Material ist die Botschaft

Kulturwechsel zwischen Berlin und Istanbul: Wie damit drei Generationen von Bildhauerinnen aus der Türkei umgehen, zeigt eine Schau in Berlin.

Arbeit am Boden. Still aus Evrim Kavcars Video „Revival“, Mediainstallation, 2020 Foto: Galerie Nord/Kunstverein Tiergarten

30 spitze Hüte, seltsam dunkelbraun gefärbt, eine Mischung aus Zuckerhut und Zylinder. Die Künstlerin Yıldız Tüzün schuf diese Skulptur 1995. Auf den ersten Blick kaum zu deuten, oszilliert die seltsame Bodeninstallation zwischen Minimalskulptur und einem Totem-Hain. Was könnte sie mit dem „Wechsel der Geografie“ zu tun haben, auf die die Ausstellung „Shifting Patterns“ in der Galerie Nord/Kunstverein Tiergarten hinauswill, der Galerie des Berliner Bezirks Mitte?

Zunächst einmal belegt die Schau die Qualitätsarbeit des oft unterschätzten Instituts Kommunale Galerie. Die 12 Berliner Bezirke unterhalten immerhin 34 davon. Jedes Jahr zeigen sie rund 200 Ausstellungen. „Shifting Patterns“ ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sie in den letzten Jahren ihr lange unauffälliges Profil durch ambitionierte Projekte schärfen konnten, die weder auf Trends noch auf Sammler schielen müssen.

Die Schau versteht sich vor dem Hintergrund der 60. Wiederkehr des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei im nächsten Jahr. Im migrantisch geprägten Umfeld der Turmstraße in Moabit genau richtig platziert, vermeidet sie es aber zum Glück, abgenutzte Motive zu wiederholen, die unter dem Motto: „Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen“ seit Jahr und Tag die psychischen und sozialen Folgen dieses Wechsels der Geografie anprangern.

Ayşe Güngör und Veronika Witte, die beiden Kuratorinnen, wollen vielmehr zeigen, wie sich der Orts- und damit auch Kulturwechsel in den Materialien von Künstlerinnen von drei Generationen niederschlägt. Die 1932 in der Türkei geborene Tüzün ist sozusagen die Pionierin für diese „Verschiebung von Mustern“.

Vorliebe für Alltägliches

Ihr Istanbuler Kunststudium beendete sie 1975 in Stuttgart. Seither lebt sie in Deutschland. Ihre braunen Zylinder sind aus in Bienenwachs konservierten Kaffeefiltern gefertigt. Man mag in der Wahl des Materials einen Beleg für die auffällige Vorliebe von Künstlerinnen für alltägliche Materialien sehen. Sie spiegelt aber genauso etwas von der Verunsicherung in einem neuen Kontext wie die Arbeit der 14 Jahre jüngeren Gülsün Karamustafa.

Die 1946 in Ankara geborene Künstlerin ist eine der Pionierinnen der türkischen Konzeptkunst. Seit einigen Jahren bewegt sie sich zwischen Berlin und Istanbul. In ihrer „Vulnerable“-Serie hat sie zarte Objekte wie Federn, Papierblüten oder eine Haarschleife auf die Spitzen kleiner Scheren gespießt.

Die Ausstellung

„Shifting Patterns“ in der Galerie Nord, Kunstverein Tiergarten Berlin, bis 16. Januar, zurzeit geschlossen

Karamustafa erzählt keine Migrationsgeschichte, sondern findet ein Symbol für das allgemeine Gefühl von Verletzlichkeit. Es ist dieses Gespür für das Hybride, Verwundbare und Zerbrechliche, der Verzicht auf alles auftrumpfend Deklaratorische, welches die zwanzig, höchst unterschiedlichen Positionen und Künstlerinnen dieser klug komponierten Schau verbindet: Das Material ist die Message.

Dialektik von Geborgenheit und Zerstörung

Wie der Ortswechsel bis heute die Materialwahl beeinflusst, zeigt Ekin Su Koç. In Istanbul studierte sie Malerei. Lange lebte sie in Dänemark. Nach Berlin gekommen, collagierte sie Textil und Skulptur. Sie hat Gipsabdrücken der Reliefs von Berliner Altbauten mit traditionellen Textilien collagiert. 1986 in Istanbul geboren, ist sie die jüngste Teilnehmerin der Gruppenschau.

Dass der Mensch so etwas wie Heimat braucht, thematisiert Azade Köker mit filigranen Papiergebäuden. „Relikte der Stadt“ hat die 1948 geborene Künstlerin die von innen erleuchteten Hochhausstrukturen genannt. Sie erinnern an Rückzugsräume, Ruinen oder eine nach einer Katastrophe verlassene Siedlung – ein bezwingendes Bild der Dialektik zwischen dem Wunsch nach Geborgenheit und der Fähigkeit zur Zerstörung.

Auch Köker ist eine Wandrerin zwischen den Welten. Lange hat die gebürtige Istanbulerin als Professorin in Halle und Braunschweig gelehrt. Wie sehr die vermeintliche Heimat heute überall auf der Welt zu einem Ort ständiger Kontrolle geworden ist, bearbeitet ­Burçak Bingöl mit ihren Überwachungskameras. Indem die 1976 geborene Bildhauerin sie aus blumenverziertem Porzellan modelliert, camoufliert sie ihre Form als politische Waffe, erodiert sie aber auch durch die Erinnerung an das traditionelle Handwerk.

Dass die Arbeit in dem Zwischenraum von Heimat und Fremde nicht in irgendeine Blut-und-Boden-Mythologie ausarten muss, wird bei der Istanbuler Künstlerin Evrim Kavcar deutlich. In ihrer Installation „Boden“ hat die 1976 geborene Bildhauerin während eines Berliner Stipendienaufenthalts in der Stadt gesammelte Erde mit solcher aus verschiedenen Orten der Türkei zu kleinen Kugeln fusioniert.

Für die als Glas- und Keramikkünstlerin ausgebildete Yasemin Özcan ist die Arbeit mit Erde eine Metapher für das Experiment der Formfindung und den Prozess der Schöpfung schlechthin. In einem Video sieht man eine Hand aus einem Klumpen Lehm auf einer Töpferscheibe eine Kugel formen. Man kann es aber auch politisch deuten, dass sie ihre Arbeit „Earth. The Mother of us all“ genannt hat.

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