Sänger der Manic Street Preachers: 100 MPs und eine Huldigung
James Dean Bradfield, Sänger der Popband Manic Street Preachers, veröffentlicht eine gelungene Hommage an den chilenischen Sänger Victor Jara.
Irgendwann durchfährt der Gedanke wohl jede schöpferische Seele: Was bleibt von meinem Leben? Und für den traurigen Fall, dass die Antwort lauten könnte, „nicht viel“, war’s die Sache dann wert? James Dean Bradfield, als Frontmann der walisischen Popband Manic Street Preachers Schöpfer einiger sehr schöner Songs, denen seine Fans Unsterblichkeit attestieren, behauptet jedenfalls, diese Idee erstmals 2019 gehabt zu haben. Da drückte ihm Patrick Jones, Bruder seines Bandkollegen Nicky Wire, einen Batzen Gedichte in die Hand.
Jedes beschäftigte sich mit einem Aspekt des Lebens von Victor Jara (1932–1973), dem berühmtesten chilenischen Folksänger, der kurz nach Beginn des Umsturzes am 16. September 1973 von Schergen des Diktators Augusto Pinochet ermordet wurde. „Als ich die Gedichte las, kam mir der Gedanke, dass ein bedeutsames Leben, nach dem Tod weitergeht“, berichtet Bradfield und beschloss, aus den Gedichten ein Album zu machen.
Nun wäre es töricht, den noch immer beträchtlichen Nachhall des chilenischen Helden-Barden Víctor Jara als Maßstab zu nehmen. Als Chiles sozialistischer Präsident Salvador Allende sagte, es gebe keine Revolution ohne Lieder, hatte er vermutlich Jaras Werke im Sinn. Die besangen Ende der 1960er und Anfang der 1970er so voller Empathie und Zuneigung das Leben chilenischer Arbeiter und die Notwendigkeit politischen Protests und sozialer Gerechtigkeit, dass manche sie gefährlicher als 100 Maschinenpistolen nannten.
Mit Jara gegen Fahrpreiserhöhung
Selbst bei den jüngsten Protesten, die vor rund einem Jahr aufgrund der Erhöhung von Fahrpreisen begannen, stimmten in Santiago die Menschen wieder Jaras Lieder an. Damit will sich Bradfield trotz all seiner Agit-Prop-Sympathien nicht vergleichen. Er will ein bisschen mitbauen an Jaras Nachlass. Mit eigenen Mitteln. Und das macht er ziemlich gut.
James Dean Bradfield:“Even in Exile“ (Delaware Limited/TheOrchard)
Musikalisch sind Jaras Protestsongs für Bradfield dabei nur ein Sprungbrett. Jedes der zwölf Lieder auf „Even in Exile“ beginnt ruhig und reduziert, meist nur Gitarre oder Klavier und Stimme braucht der 51-jährige Brite dazu und bleibt recht nah am Folk. Dann aber wird verbreitert, und zwar mächtig. Diesen pompösen, oft orchestralen, meist gitarrenlastigen Sound Stadionrock zu nennen, verbietet sich. Dreht sich das Album doch um einen Musiker, der in einem Stadion erst gefoltert und schließlich mit ein paar Dutzend Kugeln hingerichtet wurde. Nennen wir es lieber, ganz ohne negative Konnotationen, Prog-Rock.
Ganz ohne Panflöten
Bradfield ist schlau genug, um sich nicht an musikalischen Nachbildungen der chilenischen Ikone zu versuchen. Dazu schwirren auch zu viele Ideen durch seinen walisischen Sturschädel, die eine Akustikgitarre alleine nicht abbilden kann. Selbst die einzige Jara-Komposition, „La Partida“, die auf Panflöten bis heute durch Fußgängerzonen weht, gerät ihm mit Chor und breitbeinigen Gitarren zum weitwinkligen Melodram. Viel Pathos, kein Kitsch – das patentierte Manic-Street-Preachers-Konzept geht hier wieder auf.
Die verarbeiteten Gedichte sind ebenso eigenständig. Das biografische „Boy from the Plantation“ bleibt die Ausnahme. Gleich der Auftaktsong „Recuerda“ verknüpft die Erinnerungen an Pinochets Militärputsch 1973 mit dem kulturellen Verlust durch ein 1965 geflutetes walisisches Tal. „30.000 Milk Bottles“, mit seinem wirbelnden Klavierthema und weich ausgelegt mit Bläsern und Streicher, verknüpft die sozialen Versprechen Allendes (Gratismilch für alle Kinder Chiles) mit den Gräueltaten Pinochets (30.000 Verschwundene) zum vielleicht schönsten Stück des Albums.
Zum anrührendsten Lied gerät das langsam pulsierende „There’ll Come a War“, auch weil es so unheimlich auf unsere Gegenwart passt. Dosiert streut Bradfield südamerikanische Elemente ein, ohne dass sein Akzent die eigene britische Herkunft leugnen würde. Manchmal klingt das wie Ennio Morricone auf Besuch in Swansea.
James Dean Bradfield ist mit „Even in Exile“ ein unprätentiöses Tribute-Album gelungen. Es ist ein impressionistisches Porträt, gemalt mit breiter Palette. Die Musik verbeugt sich vor einem inspirierenden Stern der Protestbewegung, ohne dabei in den Staub zu sinken. Das hätte Víctor Jara nicht gewollt, schon weil es nicht sein Ansatz war. Gefährlich war er, weil er andere ermutigte, ihnen Stolz und Mut gab, ihnen Gedanken einpflanzte.
Empfohlener externer Inhalt
The Boy from Plantation
Im Falle von Bradfield offenbar die, dass ein bedeutungsvolles Leben etwas hinterlässt. Hat er dann auch gleich umgesetzt. „The Last Song“, ein Stück über die letzten brutalen Stunden vor Allendes und Jaras Ermordung, setzt Bradfield nicht an den Schluss, sondern an die vorletzte Stelle. Das Finale ist dann wieder eine typische große Bradfield-Geste, und es heißt „Santiago Sunrise“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug