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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im SportDie Übergriffe

Endlich werden Betroffene sexualisierter Gewalt im Sport gehört. Ihre Geschichten zeigen haarsträubende Versäumnisse der Vereine.

US-Turnerin Simone Biles, eine der erfolgreichsten Athletinnen aller Zeiten, erfuhr sexualisierte Gewalt Foto: Sandy Dinkelacker/masterpress/imago

Dem Vater ist es wichtig, dass sie Kampfsport lernt. Damit sie sich als Mädchen selbst verteidigen kann. Er schickt sie zum Judo und ahnt nicht, dass seine Tochter gerade in diesem Judoverein regelmäßige sexualisierte Gewalt erleiden wird. Marie Dinkel ist heute 24 Jahre alt und in der zweiten Bundesliga in der Gewichtsklasse unter 57 Kilogramm aktiv. Mit 13 Jahren wird sie von ihrem Judolehrer regelmäßig sexuell missbraucht.

Heute kann sie darüber sprechen, als eine von drei Betroffenen bei der Anhörung vor der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, die beim Bundesfamilienministerium angesiedelt ist. Es geht um einen Bereich, in dem Aufarbeitung sexualisierter Gewalt lange nicht stattfand: den Sport.

Marie Dinkel ist über Video zugeschaltet; sie spricht sehr reflektiert und lächelt viel, ihre Stimme klingt kindlich. Einige PressevertreterInnen duzen sie penetrant und irritierend. Die Geschichte des Missbrauchs selbst schildert Dinkel nicht, sie wird eingesprochen, wie bei allen drei Betroffenen.

Bei der Reiterin Gitta Schwarz, die von ihrem Reitlehrer regelmäßig genötigt wurde, ihn oral zu befriedigen, und deren Vater ihr nicht glaubte. Bei einer anonymen Fußballerin, die von Betreuern erniedrigt, angefasst und von einem vergewaltigt wurde.

Wegmarken der Aufklärung

Schwimmen

19 Schwimmerinnen, darunter die Olympiasiegerinnen Deena Deardruff und Nancy Hogshead, haben 2014 in einer Petition andauernden sexuellen Missbrauch in Trainingsstätten beklagt. Über Jahre habe der nationale Schwimmverband alles getan, um selbst die Fälle zu vertuschen, die von Sportlerinnen zur Anklage gebracht wurden.

Fußball

2016 hat der ehemalige Fußballprofi Andy Woodward erstmals öffentlich schwere Vorwürfe gegen einen Jugendtrainer erhoben, der ihn einst in der Talentschmiede Club Crewe Alexandra ausgebildet hatte. In der Folge meldeten sich viele Männer, die in Jugendabteilungen von Fußballclubs missbraucht worden waren.

Turnen

Als 2017 die drei ehemaligen US-Turnerinnen Jeanette Antolin, Jessica Howard und Jamie Dantzscher in einer TV-Dokumentation ihren ehemaligen Teamarzt Larry Nassar des sexuellen Missbrauchs beschuldigten, lösten sie eine wahre Lawine aus. Am Ende waren es 265 Frauen, die dem Arzt sexuellen Missbrauch vorwarfen – unter ihnen die viermalige Olympiasiegerin Simone Biles.

Angst, Scham, Verwirrung

Und es zeigen sich Parallelen: die Angst, sich gegen Autoritätspersonen zu wehren. Die Scham, die Verwirrung; die Sorge, den Sport zu verlieren, den man liebt. Und die Strukturen, in denen weggeschaut und geschwiegen wurde. Wie die Ex-Fußballerin es sagt: „Sport war Familie, wo man niemanden anschwärzt.“

Auch die Geschichte der Judoka Marie Dinkel zeigt einige dieser Merkmale. Ihr damaliger Verein, der TV Gladenbach, habe damals keine Prävention betrieben, sagt sie, kein Führungszeugnis verlangt, die Mädchen mit dem Trainer unüberwacht allein gelassen. „Wenn wir im Kampf am Boden festgehalten wurden, konnten wir nichts machen“, so schildert es Dinkel.

Und in diesen Situationen fasst der Trainer den Mädchen erst von außen an den Schritt, dann in die Hose. Es betrifft alle Mädchen. Jede weiß, was der anderen in diesem Moment geschieht, aber sie fühlen sich, so schildert es Dinkel, hilflos. Auch schuldig, als hätten sie selbst etwas falsch gemacht. „Es war schrecklich. Wir haben die Hosen extra fest zugebunden, bis wir fast keine Luft mehr bekommen haben.“

Ein enges Vertrauensverhältnis, Abhängigkeit, viel Körperlichkeit, das sind drei der Faktoren, die den organisierten Sport zu einem Gebiet mit hohem Risiko und vermutlich hoher Prävalenz von sexuellen Übergriffen machen.

Hohe Dunkelziffer

Genaues ist schwer zu ermitteln. Die Soziologin Bettina Rulofs hat für das von 2014 bis 2017 laufende Projekt „Safe Sport“ in einer Studie, der ersten in diesem Umfang, unter anderem 1.800 KaderathletInnen zu sexualisierter Gewalt befragt. Die Resultate waren erschreckend. JedeR Dritte gab an, im Sport sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, jedeR Neunte lang anhaltend und schwer. Viele prominente und schwerwiegende Fälle kamen in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit.

„Wir müssen von einer hohen Dunkelziffer im Sport ausgehen. Wir haben den Eindruck, dass es den Betroffenen schwergemacht wird, sich zu melden“, so Sabine Andresen, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission zu sexualisiertem Missbrauch.

Die Kommission selbst besteht seit 2016, ab Mai 2019 hat sie aktiv Betroffene im Sport aufgefordert, sich zu melden. Doch nur hundert AthletInnen haben das bis jetzt getan. Obwohl etwa 2019 in der Altersgruppe von 7 bis 14 Jahren 61 Prozent der Mädchen und fast 80 Prozent der Jungs in Deutschland Mitglied eines Sportvereins waren; im Teenageralter sinken die Zahlen, aber bleiben hoch. Wo sind die Betroffenen?

„Bislang gibt es im Sport keine Kultur des Sprechens über Gewalt“, kritisiert Andresen. „Und schon gar keine Kultur des Zuhörens. Nach wie vor berichten Betroffene, dass sie zurückgewiesen wurden und die Tragweite eher verleugnet und bagatellisiert wurde.“ Das machistische Altherren-Umfeld des Sports verschärft das Problem. „Es gab nur männliche Trainer im Verein“, erzählt Dinkel. „Aber ich hätte darüber nur mit einer Frau gesprochen.“

Ältere Männer mit anzüglichen Witzen

Obwohl es keine Prävention und keine Hilfe von außen gab, überwindet sich Marie Dinkel nach einigen Monaten und vertraut sich ihren Eltern an. Die unterstützen sie, der Trainer muss den Verein verlassen. An der Schule, wo er Sport unterrichtet, darf er aber weiter tätig sein. Und auch im Verein fühlt sie sich kaum unterstützt. „Ich hatte oft das Gefühl, das wird nicht ernst genommen. Es wird im Sport so viel totgeschwiegen. Dann sitzen da ältere Männer, denen will man das gar nicht erzählen. Da kommen nur sexuell anzügliche Witze.“

Viele im Verein schützen lieber die TäterInnen als die Opfer. Dinkels Eltern erstatten zwar Strafanzeige, aber das Verfahren wird laut Spiegel nach Zahlung eines Geldbetrags eingestellt. Die juristische Aufarbeitung läuft nach Dinkels Schilderungen völlig unangemessen. „Das war eine ganz unangenehme Situation. Im Raum saßen acht Männer, die mich ausgefragt haben: Wie hat er dich angefasst? Wo hat er dich angefasst?“

Als sie die Aussagen vor Gericht in Anwesenheit des Trainers wiederholen soll, entscheiden sich die Eltern, die Tochter zu schützen, und verweigern das.

Es ist unklar, ob sexueller Missbrauch in einigen Sportarten häufiger vorkommt als in anderen. Es weist einiges darauf hin, dass Sportarten, wo es viele Hilfestellungen und intensive Körperlichkeit gibt, stärker betroffen sein könnten.

Endlich ernst genommen

Unter den Betroffenen, die sich bei der Aufarbeitungskommission meldeten, waren Spitzen- und BreitensportlerInnen, mehr Frauen als Männer, unter den TäterInnen dagegen überwiegend Männer. Auch, wenn die Zahlen nicht repräsentativ sind, spiegelt das die Erkenntnisse der „Safe Sport“-Studie: „Kaderathletinnen sind signifikant häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als Athleten.“

Zugleich ist diese Kommission für die Betroffenen aber auch, das ist spürbar, ein Zeichen der Hoffnung. „Es gibt mir Kraft, dass das Problem heute ernst genommen wird“, sagt die Ex-Fußballerin. In den letzten Jahren hat sich Druck aufgebaut, auch durch wachsendes Selbstbewusstsein von AthletInnen.

„Ich glaube, da ist was in Bewegung“, so Maximilian Klein von der Interessenvertretung Athleten Deutschland. „AthletInnen fangen an, sich zu regen, sie sprechen.“ Es gebe aber auch systemimmanente Probleme, etwa die starke Abhängigkeit der SportlerInnen von TrainerInnen. Es brauche „eine mächtige, unabhängige Struktur“. Und: „Es braucht einen flächendeckenden Kulturwandel.“

Es sind kleine Schritte dorthin. Alle vom Innenministerium geförderten Spitzensportverbände mussten bis Ende 2019 einen Beauftragten für Prävention und Intervention benennen. Einsichtnahmen in Führungszeugnisse müssen geregelt, Fort- und Weiterbildungskonzepte für MitarbeiterInnen entwickelt, Internventionspläne und Sanktionsmaßnahmen eingeführt werden.

„Er war doch so ein guter Trainer“

Laut einer Umfrage haben die Verbände bislang mehr als das umgesetzt. Petra Tzschoppe, Vizepräsidentin beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), entschuldigte sich zudem bei allen Betroffenen für das erlittene Leid und kündigte weitere Schritte an, auch Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Sie räumte auch ein, die Aufarbeitung sei „noch nicht so weit gediehen, das ist uns bewusst“.

Das prangert auch die Kommission an. „Es gibt zum Glück in allen Bereichen deutlich mehr Bemühungen zu Prävention“, so Sabine Andresen. „Aber der Blick zurück, die Aufarbeitung, konfrontiert den Sport mit Fragen des eigenen Versagens. Man kann nicht mehr so tun, als ob es sich um EinzeltäterInnen handelt. Das führt zu unbequemen Fragen.“ Man wird sich mit Strukturen auseinandersetzen müssen.

Zum Beispiel bei dem Fall einer Zeugin, die anonym aussagt. In ihrem Sportverein gab es einen Trainer, der, wie sich herausstellte, wegen sexuellem Missbrauchs rechtskräftig verurteilt war. Aber der Vorstand konnte sich nicht einigen, ihm zu kündigen. Er war doch so ein guter Trainer und die Eltern wollten ihn behalten.

Es gibt noch viel zu tun. Etwa unabhängige Anlaufstellen für Betroffene. Mehr oder überhaupt Präventionsarbeit im Verein, mehr Gewicht für das Thema bei Lehrgängen und in der Ausbildung von TrainerInnen.

Aktiv gegen die Gewalt

Zum Beispiel durch Menschen wie Marie Dinkel. Lange litt sie selbst unter psychischen Problemen nach dem Missbrauch. Dann entschied sie sich, aktiv zu werden. Heute ist die 24-Jährige selbst ausgebildete Trainerin, konfrontierte KollegInnen mit ihrer Geschichte. Und hat Forderungen an den Sport: „Es sollte Thementage geben, wo Betroffene eingeladen werden, und Leitlinien, wie TrainerInnen bei Verdacht auf Missbrauch handeln. Die Vereine müssen transparenter mit dem Thema umgehen.“

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3 Kommentare

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  • Eigentlich kann man in dem folgenden Satz: "Viele im Verein schützen lieber die TäterInnen als die Opfer." getrost die gendergerechte Schreibweise bei " TäterInnen" weglassen, oder?



    Denn immer, wenn man etwas zu sexualisierter Gewalt in der Presse liest, handelt es sich um Fälle, wo Männer sich strafbar gemacht haben. Gibt's denn Beispiele, wo Frauen zu Täterinnen wurden?

    • @Alfonso el Sabio:

      Laut Statistik sind 10-20% der übergriffigen Personen weiblich. Das heißt, auch Frauen können sexualisierte Gewalt ausüben. Somit ist die gegenderte Schreibweise hier richtig.

    • @Alfonso el Sabio:

      Gibt es durchaus - wenngleich auch die Fallzahlen viel niedriger sind.

      Aber dass muss nichts heissen. Durchaus denkbar, dass Täterinnen gegenüber eine höhere Toleranzschwelle existiert oder bei den meist männlichen Opfern die Schamschwelle noch höher ist als bei weiblichen Opfern.