Ökonom Amartya Sen wird geehrt: Der Feminist
Amartya Sen hat die Wohlfahrtsökonomie revolutioniert. Jetzt erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein Porträt.
Der indische Ökonom Amartya Sen ist einer der wichtigsten Denker weltweit. Er hat 1998 den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten und bereits mehr als hundert Ehrendoktortitel eingesammelt. Wer ihn ehrt, macht also nichts falsch. Am 18. Oktober wird ihm nun der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, der mit 25.000 Euro dotiert ist.
Der 86-jährige Sen stammt aus der intellektuellen Elite seines Landes. Der Vater war Chemieprofessor, der Großvater mütterlicherseits ein Experte für Sanskrit sowie die antike und mittelalterliche Kultur Indiens. Selbstironisch schrieb Sen später: „Ich wurde auf dem Campus einer Universität geboren und habe mein ganzes Leben auf dem einen oder anderen Campus verbracht.“ Sen kam in Shantiniketan im Nordosten Indiens zur Welt, wo der bengalische Poet und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore ein eigenes Internat mit Universität gegründet hatte. Sens Großvater gehörte zu den Lehrkräften, und es war Tagore, der vorschlug, den Neugeborenen doch Amartya zu nennen, was auf Bengalisch „unsterblich“ bedeutet.
In Shantiniketan erlebte Sen die Hungersnot von 1943 mit, bei der zwei bis drei Millionen Bengalen umkamen. Diese Erinnerung hat ihn nie wieder losgelassen und sollte sein späteres Werk stark prägen. Denn schon dem Kind Amartya fiel auf, dass nur die Ärmsten starben. In seinem Internat oder unter den Verwandten hungerte niemand. Für die Eliten war es mühelos möglich, sich die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Selbst die untere Mittelschicht blieb verschont, wie Sen beobachtete. Die Katastrophe traf nur die landlosen Tagelöhner. Warum?, fragte sich der Zehnjährige.
Für Sen stand früh fest, dass er Ökonomie studieren wollte. Zunächst machte er einen Abschluss in Kalkutta und wechselte dann 1953 nach Cambridge. Dort geriet er in die wahrscheinlich wichtigste intellektuelle Auseinandersetzung, die die Volkswirtschaftslehre jemals erlebt hat: John Maynard Keynes war bereits tot, aber viele seiner Schüler lehrten noch in Cambridge. Diese Keynesianer lieferten sich eine heftige Fehde mit den „Marginalisten“, also mit den Neoliberalen, die ebenfalls zum Teil in Cambridge unterrichteten. Sen fand diese theoretischen Fehden furchtbar. Auf die jeweiligen Argumente ließ er sich gar nicht erst ein – ihm war der militante Habitus in den Diskussionen zuwider. Er zog sich ins Trinity College zurück, wo friedvolle Ruhe herrschte, da die wichtigsten Kombattanten in anderen Colleges zu Hause waren.
Kein Keynesianer
Es sollte allerdings nicht folgenlos bleiben, dass Sen sich niemals intensiv mit dem Keynesianismus beschäftigt hat. Instinktiv schwenkte er auf die sogenannte Mikroökonomie ein, die von den Präferenzen des Individuums ausgeht – sich aber um das große Ganze der Volkswirtschaft nicht kümmert. Makroökonomische Themen wie Vollbeschäftigung, Geldschöpfung oder Devisenspekulation kommen bei Sen nicht vor. Ihn beschäftigt die „Wohlfahrtsökonomie“: Sie erforscht, wie der vorhandene Wohlstand verteilt wird und welche Kriterien gerecht wären. Aber wie dieser Wohlstand überhaupt entsteht, dazu kann Sen nichts sagen. Das ist keine Kritik. Nicht jeder Volkswirt kann sich um alle Themen kümmern.
Sen hat die Wohlfahrtsökonomie revolutioniert. Vorher war sie ein steriles Fach, das sich mit purer mathematischer Logik befasste. Sen hat daraus eine pulsierende, lebensnahe Disziplin gemacht – und zugleich viele Annahmen der Neoliberalen pulverisiert.
Zunächst widmete sich Sen der Frage, wie eine demokratische Gesellschaft überhaupt zu Entscheidungen gelangen kann, die die Interessen aller Bürger berücksichtigen. Das theoretische Problem war so schlicht wie fundamental: Es schien gar keine Möglichkeit zu geben, die Präferenzen der einzelnen Personen zu vergleichen und zu gewichten. Schließlich ist jeder Mensch anders. Wie sich mathematisch zeigen ließ, spiegeln selbst Mehrheitsentscheidungen nicht unbedingt die Wünsche der Mehrheit wider.
Sen ließ es keine Ruhe, dass die Demokratie so willkürlich wirkte. Im ersten Schritt ging er das Thema theoretisch an – indem er axiomatisch untersuchte, über welche Daten man überhaupt verfügen muss, um die Gerechtigkeit einer Gesellschaft zu beurteilen. Sen verband Mathematik, Wirtschaft und Philosophie miteinander.
Wie entsteht Hunger?
Damit knüpfte er an eine alte Tradition an: Auch die Gründungsväter der Ökonomie waren häufig zugleich Philosophen gewesen. Dies galt für Liberale wie Adam Smith und John Stuart Mill genauso wie für Sozialisten wie Karl Marx. Erst in den vergangenen Jahrzehnten haben die meisten Mainstream-Ökonomen den Irrglauben entwickelt, sie würden eine Art Naturwissenschaft wie die Physik betreiben. Diesen neoliberalen Unsinn hat Sen korrigiert, indem er die soziale Realität akribisch untersucht hat.
Sen wollte wissen, wie Hunger entsteht – und wie man Armut messen kann. Man kann auch sagen: Sen wollte seine Heimat verstehen. Bis heute ist Sen ausschließlich indischer Staatsbürger, obwohl er die meiste Zeit an Eliteuniversitäten in Großbritannien und den USA gelehrt hat. Doch Bürger eines anderen Landes wollte Sen nie werden.
Hungersnöte galten lange als „Naturkatastrophen“. Es wurde angenommen, dass schlicht nicht genug Nahrung vorhanden sei, um alle Menschen zu versorgen. Diese Sicht ist falsch, wie Sen gezeigt hat. Er untersuchte diverse Hungersnöte in Afrika und Asien und konnte nachweisen, dass es meist genug zu essen gab – die Nahrung aber falsch verteilt war. Der „Markt“ hatte also versagt, und der Staat hätte eingreifen müssen. Sen hat damit die neoliberale Grundannahme zertrümmert, dass das freie Unternehmertum stets ein Segen ist.
Wirtschaft ist nie Selbstzweck, sondern soll ein gutes Leben ermöglichen. Daher reicht es nicht, einfach nur die Wirtschaftsleistung eines Landes zu messen. Entscheidend ist, wie der Wohlstand verwendet wird. Sen wurde deshalb von der UN beauftragt, einen neuen Human Development Index zu erstellen, und er entwickelte den „Befähigungsansatz“: Damit Menschen ihre Potenziale ausleben können, müssen sie unter anderem gesund sein und Zugang zu Bildung haben.
Ein Index für Ungleichheit
Sens Befähigungsansatz ist bereits ein guter Indikator, wie gerecht eine Gesellschaft ist. Dennoch wollte Sen es noch genauer wissen und hat zudem einen Index entwickelt, der explizit die Verteilung von Einkommen und Vermögen berücksichtigt – den Inequality Adjusted Human Development Index. Sens Indices haben ihn endgültig berühmt gemacht: Sie werden heute weltweit und von allen wichtigen internationalen Institutionen benutzt.
Sen selbst war es stets ein wenig peinlich, dass vor allem er als Urheber der Indices gilt, denn er hat sie gemeinsam mit der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelt – und dies auch immer betont. „Es gab einen richtigen Wettstreit zwischen den beiden, wer dem anderen mehr zuschreibt und mehr dankt“, erzählt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der bei Sen in Harvard promoviert hat. „So etwas hatte ich noch nie erlebt.“
Sen bezeichnet sich als „Feminist“ und hat die Benachteiligung der Frauen intensiv erforscht. Bahnbrechend war ein Aufsatz von 1990, in dem er vorrechnete, dass weltweit etwa 100 Millionen Frauen fehlen, unter anderem weil in Asien weibliche Föten gezielt abgetrieben werden. „Für mich war diese Studie sensationell“, sagt Lauterbach. „Wir Epidemiologen kämpfen mit enormem Aufwand um den Gewinn eines halben Lebensjahres bei einem 80-Jährigen in Deutschland oder den USA, aber gleichzeitig tolerieren wir ohne Wimpernzucken, dass 100 Millionen Frauen gar nicht erst entstehen.“
Sen ist auch insofern ein moderner Mann, als seine Ehefrauen ihm stets ebenbürtig waren. Zunächst war er mit der berühmten bengalischen Schriftstellerin Nabanita Dev verheiratet, mit der er zwei Töchter hatte. Es kam zur Scheidung, als Sen die italienische Ökonomin Eva Colorni kennenlernte, die „großen Einfluss“ auf sein Denken ausübte. Mit ihr hatte er eine weitere Tochter und einen Sohn, die noch Kinder waren, als ihre Mutter an Magenkrebs starb. Inzwischen ist Sen mit der britischen Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild verheiratet, die ebenfalls in Harvard lehrt.
Sen wird nicht nach Frankfurt am Main kommen, um den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels persönlich entgegenzunehmen, sondern in Harvard bleiben. Offizielle Begründung: Corona.
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