Die Wahrheit: Unkraut jäten im Neurosengarten
The show must go on: In Schleswig-Holstein gibt es seit einiger Zeit ein Altersheim für verarmte Künstler. Ein Ortsbesuch.
Man spürt es gleich, sobald man das Eingangsportal des fünfstöckigen, verwitterten Rotklinkerbaus durchschreitet: die Aura, das Prickeln, die Bewusstseinsströme, die über die endlosen Flure wehen. In Bordesholm, in einem idyllischen Landstrich zwischen Neumünster und Kiel, befindet sich Deutschlands einziges Seniorenheim für mittellose Künstler, genannt „Zur letzten Künstlerruh“. Das mit 1.369 Betten bestückte Domizil wird von der Bundeskulturstiftung seit dem Jahr 2002 großzügig unterstützt. Aberhunderte klapprige, abgebrannte Dichter, Bildhauer und Schauspieler vegetieren hier gemeinschaftlich unter einem Dach.
„Immer hereinspaziert!“, ruft Dr. Ingo Botterbusch, studierter Altenpädagoge und engagierter Leiter dieses ungewöhnlichen Heims. Gleich neben dem Eingang befindet sich der Essraum. Frühstück gebe es wie überall von sieben bis zehn, was ein Problem sei, schmunzelt der 42-Jährige, denn kaum jemand stehe hier vor elf Uhr auf. An einer Glastür hängt der Tagesmenü-Plan: morgens Rührei mit Rotwein, mittags Kaisergemüse oder Fleischkroketten mit Rotwein, nachmittags Zopfkuchen mit Rotwein, abends belegte Brote ohne Rotwein. „Der ist dann schon alle“, kommentiert der Heimleiter und führt uns in den ersten Stock.
Hier hausen die bildenden Künstler. Die Wände der Flure sind von den Bewohnern farbenfroh gestaltet mit Pastellkreide, Acryl und den eigenen Exkrementen. Von der Decke hängt eine Installation aus übrig gebliebenen Frühstückstabletts. Im Gemeinschaftszimmer malen ein paar unbekleidete Insassen Aktbilder voneinander, „aber gottlob ungegenständlich“, zwinkert Botterbusch.
Es ist 11.30 Uhr, gerade werden die Essenswünsche für den Mittag abgefragt. Irgendwer brüllt, er entscheide nichts ohne seinen Kurator. Ein anderer krakeelt, er sei Gerhard Richter, und es ist wirklich Gerhard Richter, aber das rufen drei andere auch. Wieso denn der echte Richter hier sei, ist der nicht stinkereich?, fragen wir.
Gichtfinger der Pianisten
„Alles versoffen“, wispert Botterbusch und lotst uns durchs Treppenhaus. Die Bewohner des zweiten Stockwerks hört man schon von Weitem: die Musiker. Von Saxofonisten über Bratschistinnen bis Konzertpianisten ist alles dabei. Es heißt, die Gichtfinger der Pianisten hämmern nachts gegen die Zimmerwände im 4/4- oder 7/8-Takt. Die Köpfe seniler Jazz-Kontrabassisten, die traurig aufgereiht auf dem Flur sitzen, wackeln in spannenden synkopischen Rhythmen. Der zweite Stock ist besonders anstrengend. Wenn man den dritten Stock noch nicht kennt.
Dort liegen auf dem Flur Dutzende reglose Körper herum. Das sind die Schauspieler, die ihren eigenen Tod spielen (ohne zu zwinkern!). „Toll können die das“, verdreht Botterbusch die Augen, das Pflegepersonal sei total abgenervt. Selbstverständlich ist das Klopapier andauernd alle, weil die Schauspieler darin Mumien spielen. Einige Bewohner bewegen sich seltsam abgehackt, weil sie künstliche Gelenke haben oder mimen, sie seien Marionetten an unsichtbaren Fäden. Eine faltige Diva sitzt auf einem Stuhl und klebt sich falsche Wimpern an, rund um die Hühneraugen.
„Halloo, was wollt ihr heute Mittag essen, ihr garstigen Parasiten der Gesellschaft?“, bellt eine ausgebrannte Pflegekraft mit polnischem Akzent. Statt zu antworten, verschließen die Schauspieler pantomimisch die Lippen und werfen die imaginären Schlüssel aus dem Fenster heraus. „Eine besonders anspruchsvolle Station“, bestätigt Dr. Botterbusch. Die Beruhigungstabletten für die Patienten äßen die Pfleger meist selbst: „Die Selbstmordrate unter dem Personal ist auf dieser Etage enorm hoch.“
Im vierten Stock hingegen hocken Trauben von Greisen am Gemeinschaftstisch über billigen Testamentsvordrucken und klagen über Schreibblockaden. Das sind die Schriftsteller. „Die Schriftsteller sind die Schlimmsten“, flüstert der Heimleiter. Oh, wie sie allen auf den Wecker gingen mit ihrer Vanitas, ihren Nichtig- und Eitelkeiten, ewig palavernd über zu hohen Blut- und Erfolgsdruck! Manche Bewohner sprängen zwischendurch aus dem Fenster, nur um darüber zu schreiben. Andere ritzten „originelle“ Aphorismen in Tische und Wände, um mal irgendwo Spuren zu hinterlassen, Stichwort Unsterblichkeit.
Fingergymnastik für Fagottisten
Der fünfte Stock ist das Dachgeschoss. Statt des üblicherweise unterm Dach angesiedelten Refugiums für die Bohemiens befindet sich dort ein großer Gemeinschaftsraum, in dem die Kreativkurse stattfinden. Von „Kollaborationen mit bunten Tüchern“ über „Fingergymnastik für Fagottisten“ und „Modellieren mit brüchigen Knochen“ bis „Unkraut jäten im Neurosengarten“ bleibt keine Passion außer Acht.
Am späten Nachmittag werde der Raum gern für Darbietungen der Bewohner genutzt. So wie heute. Hunderte Stühle stehen bereits aufgereiht, davor eine winzige Bühne. „Im Nachhinein würde ich sagen, man hätte lieber eine sehr große Bühne mit wenigen Stühlen davor installiert, das hätte eher dem Verhältnis von Selbstinszenierung, sprich: Angebot, und Nachfrage entsprochen“, seufzt der Heimleiter Dr. Botterbusch.
Tagsüber, erzählt er, sei es auf allen Etagen manchmal gar ruhig und beschaulich. Richtig lebhaft werde es eher nachts, wenn die heiseren Hassgesänge gegen die Künstlersozialkasse erklängen und die Klingelstreiche begännen – der Schabernack der Comedians und Kleinkünstler, die im Hinterhof eine eigene Zeltstadt errichtet haben, weil sie für das Heim kein Stipendium bekommen haben.
„Bitte, beehren Sie uns bald wieder!“, ruft Dr. Ingo Botterbusch am Ende des Rundgangs, doch genau das werden wir ganz sicher nicht tun. Noch Stunden später kitzelt sie uns in der Nase, diese eigenartig artifizielle Geruchsmelange aus Kölnisch Wasser, Desinfektionsmitteln und ausgekotztem Absinth.
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