Die Wahrheit: Geiler als jetzt geht’s nicht
Jugendliche sind die Leidtragenden im Lockdown? Haben kein bisschen Fun in diesen, schweren Zeiten? Das wollen wir doch mal sehen …
Zu den Pandemie-Opfern schlechthin seit den Corona-Einschränkungen gehören, so heißt es gern in den Medien, die jungen Leute. Diese Jugendlichen und Studenten, diese Azubis und Uni-Erstis, die sich, altersbedingt, doch eigentlich austoben wollen, ja austoben müssen.
Hier und dort machten im Sommer Videos illegaler Lockdown-Partys die Runde, waren pickelige Flashmobs im Park und heimliche Abi-Sausen zu sehen. Manch ein ewig Junggebliebener konnte das nur allzu gut verstehen. Sollten die „Feierjugendlichen“ doch wenigstens für kurze Momente ein bisschen Fun haben, ehe sie wieder daheim still vor sich hin leiden würden. Aber längst nicht alle.
„Also, ich find’s gerade geil“, erklärt Lukas Tommsen, 17 Jahre jung, und winkt mich, die Reporterin, näher an die Schlafcouch seines Jugendzimmers heran. Da fläzt er sich in einem Nest aus Erdnussflipstüten, Jugendromanen und zerlesenen Marvel-Comics. Aufstehen mag er nicht.
„Entbehrung, Mangel? Digger, das ist die beste Zeit meines Lebens!“, sagt der baldige Abiturient eines Gymnasiums in Neumünster und verschränkt gemächlich die kalkweißen Arme hinter dem Nacken: „Bestes Jahr. Geiler geht’s nicht!“
Faust voller Erdnussflips
Endlich nicht mehr dieser Jugendstress, diese Erwartungen an die „aufregendste Zeit des Lebens“ (ZDF-Funk). „Immer dieses Austoben, immer dieses Erlebenmüssen. Immer alles mitnehmen, alles wegsaufen“, ächzt der Adoleszente und wirft sich stattdessen lieber eine Faust voller Erdnussflips zwischen die ungeputzten Zähne: „Als ob es ein gutes Buch nicht auch täte!“
Ein Außenseiter oder Fortnite-Nerd sei er nicht, das ist ihm wichtig. Er habe es eben nur gern etwas gemütlicher. Endlich Downsizen, die Seele baumeln lassen, gesalzenes Knabbergebäck bis zum Abwinken futtern und wichsen, lesen, wichsen. „Da kommt man ja mit Turbo-Abi, FFF-Demos und Schlagzeugunterricht sonst ja nicht dazu“, resümiert er seufzend.
An Lukas’ Pinnwand über dem Schreibtisch hängen Einladungskarten und Flyer, die meisten noch von Anfang 2020. Fast alle sind vergilbt: „Paaardy on! Komasaufen in Bönebüttel“ oder „Du bist eingeladen! Rudelbums mit der Parallelklasse, komm vorbei!“
„Tja, Pustekuchen. Alles für die Katz“, freut sich Lukas noch heute.
Damit ist der halbstarke Schleswig-Holsteiner nicht der Einzige. Auch andere Gleichaltrige fühlen sich vom juvenilen Druck endlich befreit. Raus aus dem Hamsterrad namens Pubertät: Keine sinnlosen Partys mehr crashen, keine crazy Fahrten nach Holland, um Gras zu kaufen, kein Heavy Petting …
Was man als Teenager nicht alles gemacht haben soll: Fahrräder klauen, nach Portugal trampen, auf Festivals abstürzen, Dosenstechen, freihändig Moped fahren, nach Italien interrailen und in die Fontana di Trevi pinkeln, nachts ins örtliche Freibadbecken scheißen, Klassenfahrten absolvieren mit mindestens fünf Blackouts, auf Punkrockkonzerte durch den Hintereingang reinschmuggeln – oder Jugendwörter des Jahres auswendig lernen, um Oma zu beeindrucken.
Vor allem muss man derzeit keine Eltern ertragen, die dauernd an die Zimmertür hämmern und wildvergnügte Vorschläge machen, wie in Präcoronazeiten Lukas’ Vater: „Mach doch mal ein paar Klingelstreiche, oder wie sagt ihr heute noch mal – Pranks? Feist abfeiern, knorke abhotten, ja durch die ganze Schule vögeln, wie wir damals, das wäre doch ein Spaß. Nicht immer nur deine Mindfucks!“
Tüte mit Erdnusskrümeln
Seine Mutter hingegen macht sich vor allem Sorgen, will den Jungen zu einer Jugendfreizeit mit therapeutischer Begleitung schicken: „Aber hey, das geht ja gerade auch nicht“, freut sich Lukas und schleckt die letzten Erdnusskrümel aus der knisternden Alutüte.
Stattdessen ist jetzt die Zeit für Wesentliches, Zeit für sich selbst. Zeit, Stochastik in ihrer ganzen Schönheit zu durchdringen sowie sämtliche überlieferten Kulturtechniken der Onanie. Und Zeit, darüber nachzudenken: Was will ich eigentlich wirklich? Lukas hat es bereits für sich herausgefunden. „Nix!“, brüllt er voll Pathos durch sein 14-Quadratmeter-Dachgeschosszimmer, dass es noch von der holzvertäfelten Decke hallt: „Einfach mal nix!“
Zeit dafür hat er genug. „You only live once?“ Über diesen ausgelutschten Spruch kann Lukas nur den Kopf schütteln, dass seine fettigen blonden Haarsträhnen hin und her fliegen: „You live several times“, hält er weise dagegen, das habe er gerade in einem Buch über Buddhismus erfahren. Der phlegmatisch-sympathische Norddeutsche hofft, dass der Lockdown light noch ein bisschen verlängert wird. Und unbedingt verschärft. Nächtliche Ausgangssperren wie in Bayern, das wäre nach seinem Gusto.
„So für die nächsten drei, vier Jahre“, hofft der heranwachsende Ehrenmann. „Flegeljahre sind nun mal die überflüssigsten Jahre. Isso!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier