Rechte Anschlagsserie Berlin-Neukölln: Das Tappen im Dunkeln
Am Montag wird der Abschlussbericht der Sonderkommission in der Neuköllner Anschlagsserie vorgestellt. Fragen bleiben dennoch.
Schließlich ist den Sicherheitsbehörden, den Opfern und auch einer kritischen Öffentlichkeit schon seit zweieinhalb Jahren bekannt, wer höchstwahrscheinlich hinter den laut Polizei über 70 Anschlägen auf zivilgesellschaftlich engagierte Menschen in Neukölln steckt: die lokal aktiven Neonazis Sebastian T., Tilo P. und Julian B. Nur nachweisen konnten ihnen die Behörden bislang nichts.
Das liegt auch an zahlreichen Fehlern und Fragezeichen in den Ermittlungen. Zudem gab es Hinweise auf Verbindungen und Treffen von Polizist:innen und den verdächtigen Neonazis. Zuletzt geriet sogar der für die Ermittlungen zuständige Oberstaatsanwalt F. sowie ein ermittelnder Staatsanwalt in den Verdacht, befangen zu sein, und wurde im Zuge dessen versetzt. Mittlerweilte hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin das Verfahren an sich gezogen.
„Es muss ein Ruck durch die Sicherheitsbehörden gehen – damit Nazis sich nicht mehr sicher fühlen können“, sagte Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen, der taz – auch mit Blick auf ein jüngst bekannt gewordenes Detail, das erneut zeigt, wie zäh die Ermittlungen sind.
„Wir wissen doch alle, wer die Autos anzündet“
So soll einer der Hauptverdächtigen, Tilo P., bereits kurz nach dem Anschlag auf das Auto des linken Kommunalpolitikers Ferat Kocak ganz offen nach einer Vernehmung beim LKA über den Mitverdächtigen Sebastian T. gesagt haben: „Wir wissen doch alle, wer die Autos anzündet. Sie wissen das, ich weiß das, alle anderen wissen das. Aber keiner kann es T. nachweisen.“ Das berichtete der RBB vergangenen Freitag und berief sich dabei auf vorliegende Ermittlungsakten.
Die Staatsanwaltschaft Den Überblick in den Entwicklungen um die rechtsextreme Neuköllner Anschlagsserie zu behalten, ist gar nicht so einfach: Zuletzt ist in Berlins Exekutive einiges ins Rollen gekommen: Der mutmaßlich AfD-nahe Oberstaatsanwalt F., zuständig für alle politischen Delikte im Land Berlin, wurde wegen möglicher Befangenheit versetzt. Der in der rechten Anschlagsserie ermittelnde Staatsanwalt bat im Zuge dessen um seine Versetzung. Der geschasste Oberstaatsanwalt soll schon mal vor angehenden Jurist:innen rechte Verschwörungstheorien ausgebreitet haben und sein Amt offenbar auch politisch gedeutet haben – in linken Kreisen ist er schon länger als Scharfmacher bekannt, wie auch ein Prozess kürzlich verdeutlichte.
Viele Fragezeichen Auch schon länger bekannte Missständen in der Neuköllner Anschlagsserie können fast ein Buch füllen. Das Gröbste: Anfang Juni stellte sich heraus, dass ein Neuköllner Polizist Interna in einer AfD-Chatgruppe geteilt hatte, in der mit Tilo P. auch einer der Hauptangeklagten der Anschlagsserie war. Zudem hatte er in Mails 2016 AfDlern davon abgeraten, eine Veranstaltung eines gegen Rechts engagierten Buchhändlers zu besuchen. Dessen Auto brannte wenige Tage später. Desweiteren soll sich in dem Komplex ein LKA-Beamter mit dem Hauptverdächtigen Sebastian T. in einer rechten Szenekneipe getroffen haben. Ermittlungen dazu soll wiederum der mittlerweile versetzte Staatsanwalt eingestellt haben. Ebenso wenig wurde Ferat Kocak vor einem Brandanschlag auf sein Auto gewarnt – obwohl sowohl Verfassungsschutz als auch Polizei von konkreten Planungen gewusst hatten.
Lux sagt dazu: „Auf der Sonnenallee jagt die Polizei unter dem Stichwort Clankriminalität jedem Krümel unverzollten Schischa-Tabak hinterher. Ich erwarte, dass auch deutlich mehr gegen Neonazis unternommen wird.“ Nicht nur in Neukölln seien Nazis häufig im Rotlichtmilieu verankert, hätten mit Drogen zu tun und seien alltagskriminell.
Angesichts des Stillstands in den Ermittlungen ist Lux umso empörter über die Kriminalisierung der Opfer der Serie: Die Betroffenen-Initiative Basta aus der von den Anschlägen besonders gebeutelten Hufeisensiedlung im Süden Neuköllns demonstriert seit über einem Jahr jeden Donnerstag vor dem LKA in Tempelhof, um Aufklärung und einen Untersuchungsausschuss zu fordern.
Kundgebung einmal nicht angemeldet
Wie kritikfähig das LKA dabei ist, bewies es kürzlich mit einer Anzeige gegen die Anmelderin zahlreicher dieser Kundgebungen. Diese habe es nämlich einmal im Juli 2020 versäumt, die Kundgebung anzumelden. Nun läuft ein Ermittlungsverfahren gegen die Frau, bei der Neonazis die Scheiben eines Kinderzimmers mit Steinen eingeworfen, den Briefkasten gesprengt, Reifen zerstochen und versucht haben, einen Brandanschlag zu verüben.
„Das ist empörend“, sagt Lux, „das sind liebe und nette Menschen aus Britz. Das Verfahren zeigt, dass die Anzeigenden keinen souveränen Umgang mit Kritik haben.“ Fachlich sei er sich zudem sicher, dass eine fahrlässige Nicht-Anmeldung einer Kundgebung nicht strafbar sei – zumal von Vorsatz hier keine Rede sein könne.
Niklas Schrader von der Linken äußerte sich zum Abschlussbericht in ähnlicher Weise: „Die Ergebnisse der BAO Fokus sind ernüchternd.“ Es sei viel angestellt worden, aber für wirklich neue Hinweise und Erkenntnisse habe es nicht gereicht. Es brauche weiter eine unabhängige Untersuchung der entscheidenden Fragen. Insbesondere sei auch zu prüfen, ob es Kennbeziehungen zwischen einzelnen Polizeibeamten gegeben habe, die in dem Komplex eine unrühmliche Rolle gespielt hätten.
Betroffene fordern einen Untersuchungsauschuss
Davon gibt es genug: Ein LKAler soll sich in einer rechten Szenekneipe mit dem Hauptverdächtigen T. getroffen haben. Ein Polizist und AfD-Mitglied soll in einer Chat-Gruppe P. mit geheimen Polizei-Infos versorgt haben. Ein Polizist, der früher als Vertrauensperson für Geschädigte rechter Gewalt in Neukölln agierte, ist derzeit angeklagt, weil er aus rassistischen Motiven einen Afghanen verprügelt haben soll. Auch erklärungsbedürftige Datenabfragen von späteren Opfern von Sachbeschädigungen hat es wohl gegeben, wie die Datenschutzbeauftragte bemängelte.
Schrader plädiert weiter für einen Untersuchungsausschuss noch in dieser Legislaturperiode. Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte demgegenüber allerdings bereits eine Sonderkommission mit externen Ermittler:innen angekündigt. Genug Fragen wird es auch nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts geben. Ferat Kocak, Kommunalpolitiker der Linken, dessen Auto im Februar 2018 brannte, sagt der taz: „Wenn Geisel schon wieder eine neue Ermittlungsgruppe einrichtet, ist das für uns nur Betroffene ein Wortspiel. Was soll denn die neue Sonderkommission anders machen?“
Kocak und weitere Betroffene fordert seit langem einen Untersuchungsausschuss unter zivilgesellschaftlicher Beteiligung: „Damit wir wieder Vertrauen gewinnen können und verstehen können, was da passiert ist“, wie Kocak sagt. Auch das jüngst bekannt gewordene Zitat von P. bestärke ihn in der Auffassung, dass man der Polizei bei der Aufklärung auf die Finger schauen müsse: „Die fühlen sich im Umfeld der Polizei anscheinend so sicher, dass sie folgenlos solche halben Geständnisse machen.“
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