Der „letzte Deutsche“: Botho Strauß im Schlussverkauf
Götz Kubitschek bezeichnet ihn als seinen Lehrer. Nun legt der Rowohlt Verlag die gesammelten Bocksgesänge des dichtenden Sprengmeisters vor.
Der Reaktionär ist ein Bewohner der Resterampe. Er lebt von den Rückständen abgelebter Ideologien. Mit seinem Ressentiment gegen eine Gegenwart, die ihn überfordert, hält er das Gedankengut im Verwesungszustand künstlich am Leben, ein Zombiezustand. Wie andere Gärprozesse produziert das manchmal interessant duftende Gifte. Botho Strauß, schon lange ein bekennender Reaktionär, bietet mit seinem neuen Buch jede Menge solcher Rückstände an.
Der Titel verspricht eine „Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern“. Gemeint sein dürften die „Wächter“ und „Sprengmeister“ einer Traditionslinie der Antimoderne, in die sich Strauß stellt.
Botho Strauss: „Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 320 Seiten, 26 Euro.
Der Untertitel deutet kommende Aufstände an, als könnte der Dichter in seinem Landhaus in der Uckermark den großen Knall kaum erwarten: „In der Ferne tuten die kleinen Signalhörner und warnen, dass eine Sprengung bevorsteht.“ Das Bild ist putzig wie die kleinen Signalhörner, aber es spielt mit der Gewaltfantasie von einem in die Luft gejagten System. Das Buch hält, was sein Titel verspricht.
In den hier versammelten Aufsätzen über das Zeitgeschehen, über konservative und sehr konservative Literaten, einige Maler und bewunderte Theaterkünstler begegnet man dem Autor als etwas schrulligem Wünschelrutengänger auf der Suche nach den verschütteten Quellen einer irgendwie archaischen, zeitenthobenen Wahrheit.
Umsonst gelächelt
„Der alte hohe Herr“, wie Strauß in seinem jüngsten, im vergangenen Jahr erschienenen Prosawerk („zu oft umsonst gelächelt“) sein Alter Ego ganz ironiefrei nennt, wechselt dabei zwischen sensiblen Beobachtungen, Hassausbrüchen und orakelnden Andeutungen. Begriffliche Klarheit, durchgeführte Argumente sind offenkundig nicht das Ziel des Antiaufklärers.
Nichts an diesem neuen Buch ist neu, und das nicht nur, weil es auf den ersten 280 Seiten leicht überarbeitete Zweit- und Drittverwertungen bekannter Aufsätze versammelt. Einige, vor allem die klugen, unendlich differenzierten Porträts, die Strauß seinen Theaterweggefährten der alten Schaubühne der 1970er Jahre gewidmet hat, sind noch immer eine faszinierende Lektüre.
Sie zeigen ein empfindsames, ungemein ernsthaftes und kenntnisreiches, auch kollektives (oder, weil Strauß Kollektive vermutlich hasst: gemeinsames) Nachdenken über Theater. Andere, vor allem die gereizten Versuche zur Zeitdiagnose („Anschwellender Bocksgesang“), sind mit den Jahrzehnten nicht besser geworden.
Aggressives Gebräu
Wirkte das Gebräu aus aggressivem Ressentiment, Verstiegenheiten, gedanklicher Wirrnis, „Ahnen“, „Sittengesetz“, Blut-und-Boden-Geraune in den 1990er Jahren noch wie das eines überspannten Romantikers auf dem esoterischen Holzweg, bizarr, aber ohne politische Bedeutung, kann man sich heute bei der politischen Wirkungslosigkeit nicht mehr so sicher sein.
Gebündelt und mit zeitlichem Abstand lesen sich die Essays als Dokumente eines sich seit Beginn der 1990er Jahre immer stärker radikalisierenden, in die selbstgewählte Ausweglosigkeit mündenden reaktionären Denkens eines bedeutenden Schriftstellers.
Dass Strauß statt als herausragender Autor von Zeitgeistkomödien („Kalldewey, Farce“), Beobachter verunglückter Intimbeziehungen („Die Widmung“), Großstadtflaneur („Paare, Passanten“) oder Sammler von Erinnerungsbruchstücken („Herkunft“) immer öfter als völkischer Mystiker in Erscheinung tritt, ist nicht der geringste Verlust auf diesem Weg.
Es ist in diesem Zusammenhang hilfreich, die Elogen des Strauß-Verehrers Götz Kubitschek in den Blick zu nehmen. Der Pegida-Redner und Publizist, ein in seiner Szene einflussreicher Propagandist eines intellektuell aufgerüsteten Rechtsradikalismus, ist eng verbunden mit Aktivisten der Identitären Bewegung, mit dem AfD-Politiker Björn Höcke und dem wegen Volksverhetzung verurteilten Krawallautor Akif Pirinçci.
Fanfarenstoß für Deutschland
Kubitschek feiert Strauß als „Lehrer“ und schwärmt vom „tiefen Deutschland“, dessen „Versinken“ Strauß bis heute betrauere. Strauß’ Skandalessay „Bocksgesang“ von 1993 mit seinen martialischen Endzeit- und Kulturkampfszenarien („Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben“) ist für Kubitschek nicht weniger als ein „Fanfarenstoß“, ein „Code-Text für die deutsche intellektuelle Rechte“, der „Grundpfeiler unserer Selbstvergewisserung“.
Kubitschek dürfte sehr genau wissen, wovon er redet, wenn er ihn als ein Gründungsmanifest der neuen extremen Rechten liest: „Alles, was nun kippt, was sich intellektuell, kulturell nach rechts neigt, hat mit dem,Anschwellenden Bocksgesang' einen unterirdischen Anker.“ Freimütig bekennt der rechte Publizist, dass der Name seiner Zeitschrift Sezession einem „Bocksgesang“-Zitat entlehnt ist („Das einzige, was man braucht, ist Mut zur Sezession“).
Jeder Autor hat die Leser, die er verdient. Soweit bekannt, hat sich Botho Strauß nicht gegen diese Inanspruchnahme durch einen Lautsprecher des Rechtsextremismus verwahrt. Kubitschek ist ein genauer Leser. Man wird ihm nicht vorwerfen können, irgendetwas bei Botho Strauß missverstanden zu haben.
Wer in der Strauß-Rezeption ausblendet, wie anschlussfähig ein gereizter Kulturpessimismus an die Debatten des offen rechtsradikalen Milieus ist (oder wie die Zeit großzügig einen Vorabdruck des neuen Strauß-Buches veröffentlicht), demonstriert Verdrängungswillen. Oder bemerkenswerte Ignoranz.
Üble Tradition
Es sind Schnittmengen mit langer, übler Tradition, bis hin zu Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in denen „bürgerlicher“ Kulturkonservativismus sich mit der Verachtung von Zivilisation, Liberalismus, Demokratie verbindet. Dieser Link ist es, der Strauß mit oder ohne seine explizite Zustimmung als Weggefährte und strategischen Partner für Demokratiefeinde wie Kubitschek interessant macht.
Trotzdem taugt das Buch nicht zum Skandal, auch wenn Strauß in die hier zum ersten Mal publizierten Notizen („Sprengsel“) einige Reizvokabeln streut („Toleranz und Diversität werden verordnet wie vormals die patriotische Gesinnung“, „die natürliche Anlage der Diskriminierung“). Vielleicht folgt das der Hoffnung auf etwas Aufmerksamkeit in Form von Aufregung, also das, was Die Ärzte einen „stummen Schrei nach Liebe“ nennen.
Die Litanei der Verluste sammelt Lesefrüchte, ist auf Dauer aber etwas monoton. Die Ausfälle gegen die Popkultur („Song-Lyrik mit ihrem Alltagsgebarme und ihrem Aufsässigkeitskitsch“) wirken routiniert und in etwa so gut informiert wie die armen Kulturkonservativen der 1950er Jahre, die den Rock ’n’ Roll für den Untergang des Abendlandes hielten.
Das Selbstbild als Mönch, der sich hinter dicken Klostermauern die Zumutungen der Zeit vom Leib hält, ist purer Kitsch. Wenn auch gestelzt formuliert: „Der Autor der Weile wird sich mit der Aufgabe mittelalterlicher Mönche konfrontiert sehen, die in vergesslicher Zeit für den Transport der großen Werke der Literatur und Denkkunst zu sorgen haben.“ Geht’s noch, möchte man seufzen: „Autor der Weile“! „Mittelalter“! „Mönche“! „Denkkunst“!
Tiefe des Erinnerns
Die sprachlichen Bilder sind so abgegriffen wie die Gedanken: „Alle höchsten Gipfel sind genommen. Dafür stehen in der Tiefe des Erinnerns Rekorde noch aus.“ Die Vergangenheit scheint vor allem dazu da zu sein, sich selbst „in der Tiefe des Erinnerns“ zu spiegeln.
Ohne falsche Bescheidenheit parallelisiert sich der Autor mit Hölderlin, „Seher aus Sehnsucht, der von Verlust Durchglühte […] und aus Verlust entstieg ihm das Kommende.“ Und sofort wird wieder orakelt: „Doch was ließe sich ahnen heute?“, fragt der Seher aus der Uckermark. Hölderlin, Verlust, Ahnung, Glut, „das Kommende“ (was immer das sein soll, vermutlich das Gegenteil der banalen Gegenwart), das sind so die Assoziationsketten auf der Suche nach erhabener Größe.
Es ist die Kombination aus Larmoyanz und hochfahrender Pose („Ich bin ein Subjekt der Überlieferung, und außerhalb ihrer existiere ich nicht“), die diese schwer von sich selbst faszinierten Selbstporträts so unangenehm macht: „Manchmal ist ihm zumut, nur bei den Ahnen noch unter Deutschen zu sein. Ja, er ist der letzte Deutsche. Ein Strolch, ein in heiligen Resten wühlender Stadt-, Land- und Geiststreicher. Ein Obdachloser.“
Das will anrüchig und skandalös sein, ist aber vor allem unfreiwillig komisch, wenn der letzte Deutsche mit Hang zum Altertümeln („ist ihm zumut“) in einem verqueren Stil schlechtes Deutsch schreibt.
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