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Bürgermeister über Hanauer Anschlag„Der Schmerz sitzt tief“

Sechs Monate nach dem rassistischen Mord an neun Menschen fordert der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) raschere Aufklärung.

„Wir werden das Gedenken nicht einstellen“, sagt Bürgermeister Claus Kaminsky Foto: Bernd Hartung
Konrad Litschko
Interview von Konrad Litschko

taz: Herr Kaminsky, vor sechs Monaten erschoss Tobias R. in Hanau neun Menschen aus rassistischen Gründen. Wie wirkt die Tat heute nach?

Claus Kaminsky: Der 19. Februar war der schlimmste Tag, den Hanau in Friedenszeiten erlebt hat. Und er wirkt in der Stadtgesellschaft bis heute nach. Das wird noch viele Jahre und Jahrzehnte so sein, besonders für die Angehörigen der Opfer. Sie werden ihr ganzes Leben an diese furchtbaren rassistischen Mordtaten erinnert werden.

Nach dem Attentat hängten Sie ein Banner an Ihr Rathaus: „Die Opfer waren keine Fremden.“ Auf Mahnwachen hieß es: „Hanau steht zusammen“. Gilt das heute noch?

Mein Eindruck ist: ja. Die Stadtgesellschaft steht überwiegend zusammen, hat viel Solidarität gezeigt. Es gibt den einen oder anderen kritischen Brief, warum wir etwa die Mordopfer posthum mit der Goldenen Ehrenplakette der Stadt ehren wollen, das entspräche nicht der Ehrungsordnung. Aber das ist mir zu kleines Karo. Für das, was wir hier auszeichnen wollen, gibt es keine Ehrung in der Stadt, weil wir so etwas nie vorgesehen hatten. Die Botschaft ist: Ihr gehört zu uns. Und deshalb werden wir die Plakette auch so verleihen.

Das Banner am Rathaus wurde nun aber ausgetauscht?

Ja, in enger Absprache mit den Opferangehörigen – so wie alles, was wir als Stadt in dieser Angelegenheit tun. Wir haben ein neues Banner aufgehängt, das mehr nach vorne weist: „Kein Platz für Rassismus und Gewalt. Hanau steht zusammen. Für Respekt, Toleranz und Zivilcourage.“

Die Tat und das Gedenken

Die Tat: Am 19. Februar erschoss Tobias R. in Hanau in zwei Bars neun Menschen mit Migrationshintergrund, danach auch seine Mutter und sich selbst. Im Internet hatte der 43-Jährige zuvor seinen Hass auf Migranten kundgetan. Die Bundesanwaltschaft ermittelt bis heute – Ende nicht absehbar. Bisher stuften sie die Tat zwar als rechtsextrem ein, nicht aber den Täter. Die Opferangehörigen kritisieren die für sie intransparenten Ermittlungen.

Das Gedenken: Am Mittwochnachmittag erinnern die Stadt, die Initiative 19. Februar und andere mit einer Gedenkfeier auf dem Marktplatz an den Anschlag, Bürgermeister Kaminsky wird sprechen. Zu Samstag, 13 Uhr, rufen linke Initiativen bundesweit zu einer Demonstration nach Hanau – mit der Forderung nach Aufklärung und Konsequenzen aus dem Anschlag. (taz)

Sie haben vor einem Monat die Opferangehörigen noch mal getroffen. Wie geht ihnen?

Der Schmerz, den diese Familien in Gesprächen offenbaren, ist für mich schwer zu ertragen. Das sitzt bei den Angehörigen ganz, ganz tief. Und das wird nie verschwinden. Man muss nur mal versuchen, sich vorzustellen, es hätte die eigenen Kinder oder Geschwister getroffen (stockt) … puh.

Was hat die Stadt für die Opfer bisher getan?

Wir hatten ihnen eine Opferberatungsstelle an die Seite gestellt und ihnen konkret und unbürokratisch geholfen, bei den Bestattungen, bei Behördengängen oder psychologischen Hilfen. Wir haben Therapeuten in das Jugendzentrum in Kesselstadt geschickt, habe eine neue Fachstelle zur Demokratieförderung gegründet. Aber die Arbeit ist noch nicht zu Ende.

Einige Angehörige wünschen sich neue Wohnungen, weil sie nah am Tatort wohnen. Das habe bis heute nicht geklappt.

Auch bei dem Thema tun wir unser Bestes. In einem Fall haben wir sechs Wohnungen angeboten. Es ist aber nicht einfach, weil die Wohnungen zu den Familien passen müssen und es bei den Betroffenen auch immer mal wieder Gefühlsschwankungen gibt und sie dann doch in der alten Wohnungen bleiben wollen.

Andere Hinterbliebene beklagen, dass sie ihre Jobs verloren und die Entschädigungen nicht reichen.

Da gibt es unterschiedliche Auffassungen unter den Familien und hier ist vor allem der Bund der Ansprechpartner. Wo wir Kosten übernehmen konnten, haben wir das getan. Auch die gesammelten Spenden sind alle durchgereicht. Das Land Hessen will nun noch ein neues Förderprogramm auflegen. Ich stehe regelmäßig mit den Betroffenen in engem Kontakt, auch um mich zu vergewissern: Wie weit sind wir? Wo müssen wir nachsteuern? Und um das einzulösen, was ich den Familien auf der Trauerfeier versprochen habe: Wir lassen sie nicht allein.

Çetin Gültekin, der Bruder des erschossenen Gökhan Gültekin, kritisierte in einem taz-Interview, die Behörden hätten Warnzeichen vor dem Attentat ignoriert. Gibt es ein Behördenversagen?

Da warte ich noch die Ermittlungsergebnisse ab. Die Forderung nach einer wirklich lückenlosen Aufklärung, die die Angehörigen unisono vertreten, halte ich aber für völlig berechtigt. Dass der Täter sich im Internet als Rassist outen konnte, dass er sogar die Bundesanwaltschaft anschrieb, und die Waffenbehörde erteilte ihm trotzdem einen Waffenschein, das wirft jedenfalls Fragen auf. Ich persönlich bin für eine Verschärfung des Waffenrechts. Mindestens sollten die bestehenden Regeln konsequent umgesetzt werden. Ich glaube, die Familien könnten damit umgehen, wenn man sich bei ihnen entschuldigen würde und ihnen erklärte, was nicht gut gelaufen ist. Der momentane Eindruck aber – es würde nicht alles offenbart, was man weiß – ist fatal.

Die Bundesanwaltschaft will nicht alles öffentlich machen, um die Ermittlungen nicht zu gefährden.

Das ist sicher richtig. Dann sollten die Ermittlungen aber langsam zum Abschluss kommen. Das wäre auch für die Trauerarbeit wichtig. Nehmen Sie Viorel Păun, der den Täter noch verfolgte, unterwegs erfolglos versuchte, die Polizei zu erreichen und dann erschossen wurde – ein Held. Dass die Eltern umtreibt, wie das ablief und wieso er die Polizei nicht erreichen konnte, das muss man ihnen in Ruhe erklären. Oder Hamza Kurtović, der in seinem Obduktionsbericht als „orientalisch“ beschrieben worden sein soll, nur wegen seines Namens, obwohl er blond war – das ist zutiefst verstörend, und auch das muss erklärt werden. Und zwar nicht über die Medien, sondern vorab und ganz direkt an die Familien.

Im Interview: Claus Kaminsky

Der 60-Jährige ist SPD-Politiker und Verwaltungswirt. Seit 2003 ist er Oberbürgermeister von Hanau. 2021 will er wiedergewählt werden.

Am Samstag wollen in Hanau Angehörige und Initiativen für die Aufklärung des Attentats demonstrieren – und für politische Konsequenzen. Sind Sie dabei?

Ich gehöre zu den Erstunterzeichnern des Demo-Aufrufs und werde vor Ort sein, ja.

Wurde politisch angemessen auf das Attentat reagiert?

Was ist hier angemessen? Ich kann jedenfalls, auch auf Bundesebene, ein Bemühen erkennen, sich nach dem Hanauer Anschlag dem Rechtsextremismus und Rassismus mit einer anderen Ernsthaftigkeit zuzuwenden als bisher. In dem Punkt empfinde ich das Hanauer Attentat schon als Zäsur: Dieser Kampf gegen den Hass wird nun mit einer anderen Dynamik geführt, auch der gegen die Bosheiten, die im Netz verbreitet werden. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Und meine Hoffnung.

In Ihrer Stadt wurde zuletzt über das Gedenken an den Anschlag gestritten: Ein CDU-Abgeordneter plädierte dafür, Blumen und Bilder vom Brüder-Grimm-Denkmal zu entfernen und das Gedenken auf den Friedhof zu verlegen.

Wir werden das Gedenken nicht einstellen und auch nicht verdrängen. Das wäre völlig unangemessen, und ich glaube nicht, dass der CDU-Kollege das so gemeint hat. Wie soll das auch gehen? Eine Rückkehr zur Normalität? Welche Normalität? Wir können mit dem Kampf gegen Rassismus und Gewalt erst aufhören, wenn Respekt und Toleranz normal und selbstverständlich sind. Wir haben ja einen Gestaltungswettbewerb initiiert für ein eigenes Denkmal an die Opfer des Anschlags. Solange das aber nicht realisiert ist, wird das Grimm-Denkmal ein Ort sein, bei dem Menschen immer wieder innehalten können.

Wie soll das neue Denkmal aussehen?

Da bin ich völlig offen, sowohl zur Form als auch zum Ort. Mal sehen, was die Experten vorschlagen – und was die Opferangehörigen favorisieren. Deren Urteile und deren Gefühle haben für mich in all diesen Punkten höchste Priorität.

Sie planen auch ein Demokratiezen­trum.

Ja, in wenigen Wochen sollte die Immobilie dafür feststehen. Verschiedene Gruppen sollen in dem Zentrum unter einem Dach demokratische Ideen entwickeln. Auch das fände ich ein ganz wichtiges Zeichen.

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2 Kommentare

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  • Demokratiezentrum? "Verschiedene Gruppen sollen(?) in dem Zentrum unter einem Dach demokratische Ideen entwickeln"? Muss denn eine "Idee von Demokratie" erst "entwickelt" werden?

    • @Leila Khaled:

      Die Formulierung "demokratische Idee entwickeln" ist semantisch nicht identisch mit der Übersetzung "eine Idee von Demokratie entwickeln". Es sei zugestanden, dass es längst "eine Idee von Demokratie" gibt. Als Pädagoge und Zeitgenosse, der seine Alltagserfahrungen kritisch auswertet, stelle ich aber fest, dass das Konzept "Demokratie" noch nicht wirklich von allen verstanden worden ist. Noch weniger ist es durch unser Handeln gesellschaftliche Wirklichkeit geworden. Es gibt allen Grund zur Verständigung unter "verschiedenen Gruppen". Wir als Demokraten müssen uns Sebstverständigen und aus unserem - ev. neu gewonnenen und entwickelten Verständnis heraus auch politisch handeln. Unter anderem in unserem ganz normalen Alltag. Die von manchen Konservativen rhetorisch bemühte "Normalität" z.B. in Lehrerkollegien oder in sozialen Einrichtungen wie Kinderheimen, ganz zu schweigen von Betrieben aller Art, in denen es noch nicht einmal einen Betriebsrat gibt, ist noch gar nicht wirklich demokratisch zu nennen.