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Kübra Gümüşay redet mit Peter SloterdijkLiterarischer Fremdenverkehr

Über die sprachliche Bedingtheit unseres Seins: Auf der LIT:potsdam trafen sich Kübra Gümüşay und Peter Sloterdijk zu Lesung und Gespräch.

Auf der Bühne: Kübra Gümüsay (M.), Peter Sloterdijk und Moderatorin Dilek Üsük Foto: Antonia Jacobsen

Man hatte sicher lange bang auf gutes Wetter gehofft und war dann vielleicht doch überrascht, dass es gar so gut wurde. Am meisten hatte man in Potsdam allerdings darum bangen müssen, ob die diesjährige Ausgabe des Literaturfestivals LIT:potsdam überhaupt würde stattfinden können. Das tut es nun seit Dienstag tatsächlich, mit zweimonatiger Verspätung, dank zusätzlicher Sponsoren – und überwiegend Open Air mit reduziertem Ticketangebot.

Lit:Potsdam

Lit:Potsdam, noch bis 9.8., Programm und Infos unter: www.litpotsdam.de

Kübra Gümüşay, „Sprache und Sein“, Hanser Berlin, 208 S., 18 €.

Peter Sloterdijk, „Den Himmel zum Sprechen bringen. Elemente einer Theopoesie“, Suhrkamp, 256 S., 25 €, erscheint vorauss. am 26.10.

Dabei hätten durchaus noch ein paar mehr als die gut hundert Menschen in der heißen Vorabendsonne im ausverkauften Schirrhof an der Schiffbauergasse mit genügend Abstand Platz gehabt (nur am Eingang und auf den Toiletten wäre es vermutlich zu eng geworden), als am Donnerstag die Autor:innen Kübra Gümüşay und Peter Sloterdijk das lange Wochenende in der herrlichen Berliner Vorstadt nahe der Glienicker Brücke einläuteten.

Die Paarung war durchaus reizvoll – die bekennende, junge Muslimin und Feministin und der von einigen als lüsterner Antifeminist geschmähte alte weiße Berufsprovokateur –, aber zugleich auch etwas beliebig: Beide beschäftigen sich in ihren Büchern irgendwie mit Sprache. Der Veranstaltungstitel „Über die Wahrheit“ war erkennbar zu hoch gegriffen.

Überwindung der fremddefinierten Gruppenidentität

Gümüşay las zunächst einige Abschnitte aus ihrem im Januar erschienenen Buch „Sprache und Sein“, das sich mit der sprachlichen Bedingtheit unserer Weltwahrnehmung und unseres politischen Handelns beschäftigt. Es geht ihr vor allem darum, die Grenzen einzelner Sprachen und Begriffe zu erweitern oder einzureißen und die Beschränkung von Individuen auf eine einzige Gruppenidentität zu überwinden. „Wenn ich, eine sichtbare Muslimin, bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion missachtet gemeinsam mit mir die Verkehrsregeln.“

Entsprechend sei die Rede vom „alten weißen Mann“ als bewusste Gegenstrategie zu verstehen. Keine in irgendeiner Weise erschöpfende Beschreibung jedes einzelnen alten weißen Mannes, sondern eine bewusste Provokation, die relativ privilegierte Individuen mit der Erfahrung vertraut machen soll, auch einmal selbst einer ausschließlich über äußere Merkmale fremddefinierten Gruppenidentität zugeordnet zu werden.

Ein schönes Bild gelang Gümüşay mit einer Umdeutung der angelsächsischen Redewendung vom „Elefanten im Raum“. In ihrer Version ist dieser Elefant kein für alle offensichtliches Problem, das nur niemand anzusprechen wagt, sondern der Raum ist dunkel, und durch bloßes Tasten am je eigenen partikulären Standort gibt jede:r Sprecher:in eine komplett andere Beschreibung des Problems ab als alle anderen. Der Clou: „Alle haben recht.“ Die Aufgabe eines progressiven Umgangs mit Sprache liegt für Gümüşay darin, Kategorien zu finden, in denen möglichst viele verschiedene Perspektiven Platz haben.

Lautes Dazwischenrufen

Einem alten weißen Mann im Publikum war das anscheinend zu anstrengend. Er plädierte durch lautes Dazwischenrufen nach nicht einmal einer halben Stunde dafür, doch endlich auch Sloterdijk zu Wort kommen zu lassen. Für den war freilich der zweite Veranstaltungsblock reserviert.

Anders als Gümüşay konnte Sloterdijk nicht aus einem fertigen Buch vortragen, denn „Den Himmel zum Sprechen bringen“ soll erst am 26. Oktober erscheinen. Stattdessen tat Sloterdijk das, was er ohnehin am liebsten tut: Er übernahm die Rolle des alten, weißen Märchenonkels – was man ihm als junge, türkischstämmige Frau wohl nur deswegen nachsehen kann, weil er es nun mal überwiegend auf brillante Weise tut.

Nach diversen Exkursen, etwa über den apokryphen Ursprung des Wortes „Theologie“ aus der antiken Theatermaschinerie (nicht als „Sprechen über Gott“, sondern als „Sprechen des Gottes“) oder die deutsche Meisterschaft im Hirschrufen, gab es einen ersten unangenehmen Moment, als Sloterdijk mit Bezug auf Gümüşays Lesung von der „größten Hervorbringung der menschlichen Evolution“ in der „Entstehung der weiblichen Stimme“ sprach.

Komplimente, die die Welt nicht braucht

Er beließ es aber nicht dabei, sondern lobte dazu ihren „wunderschönen Singsang“. In dieser Konstellation wohl eher ein Fall für die Kategorie „Komplimente, die die Welt nicht braucht“. Fehlte nur noch, dass er auch etwas über ihre mutmaßlich nicht Reh-, sondern Hirschaugen hinzufügte.

Allerdings setzte sich Sloterdijk auch bemerkenswert ausführlich inhaltlich mit seiner Vorrednerin auseinander, etwa in seiner Konzeption eines „verbalen Fremdenverkehrs“ in der Entstehung der modernen (west)europäischen Sprachen im Austausch mit dem Lateinischen und miteinander, was stets zu „Epidemien des Mehrsagenkönnens“ geführt habe.

Sloterdijks intellektuelles Sperrfeuer, dessen Anekdoten- und Pointenreichtum hier nicht annähernd wiedergegeben werden kann, erreichte schließlich einen Höhepunkt, als er gegen Ende wieder auf die Religion zu sprechen kam. Diese sei im Grunde erst heute wirklich frei, da sie keinerlei gesellschaftliche Aufgabe mehr zu erfüllen habe. Die Nachfrage der Moderatorin Dilek Üşük, worin denn für Sloterdijk die Funktion dieser Freiheit bestehe, gab diesem schließlich noch die Möglichkeit, die für uns heute gewiss schwer zu fassende Radikalität der Freiheit in der Paradoxie einer „Funktion der Funktionslosigkeit“ zu veranschaulichen. „In der Eroberung der Nutzlosigkeit ist man dem Himmel näher.“ Nur fehle es dort zumeist an Sprache.

Freiheit in der Poesie

Die Sprache selbst aber, könnte man hinzufügen, findet eine vergleichbare Freiheit in der Literatur und der Poesie. Darum ist es umso wichtiger, dass ein Festival wie das LIT:potsdam trotz allem stattfinden kann. Dieses Jahr wird es zum ersten Mal auch einen Familientag geben.

Neben Lesungen von weiteren bekannten Naben wie Matthias Brandt, Durs Grünbein oder Ingo Schulze liegt den Veranstaltern aber auch das Programm „Weiter schreiben“ besonders am Herzen, in dem deutsche mit geflüchteten Autor:innen zusammenkommen, um – frei nach Sloterdijk – einen „literarischen Fremdenverkehr“ zu etablieren.

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18 Kommentare

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  • Von Sloterdijk hört man heute nur noch Brei auf Stelzen. Früher, als er noch Trainer von Eintracht Frankfurt war, glänzte er noch verbal: "Lebbe geht weider!"

  • Die lustigsten Beschreibungen über Sloterdijk findet man in dem Buch von Dr. Reiner Geulen (ja genau der)

    Jenseits der Hoffnung.

    Die unumkehrbare Vernichtung des Lebens und der Abgesang der Deutschen Philosophie

    • @Sacco Pasolini:

      Liggers. Hörnmer doch mal rein -

      “ Im dritten Teil, einer Polemik, analysiert der Autor am Beispiel des Philosophen Peter Sloterdijk die Realitätsferne der deutschen Philosophie der Nachkriegszeit seit Martin Heideggers Verharmlosung der Shoa und der »viel beredeten Atombombe«.



      Auf der Grundlage schwer zugänglicher, z.T. unveröffentlichter Dokumente aus dem Umfeld Sloterdijks belegt der Autor, dass dessen Denk- und Sprachweise eine systematische Verharmlosung (»Galvanisierung«) von nuklearen Kriegen und Völkermorden darstellt und den aktuellen Popularisierern Legitimationen liefert. Der Autor bezeichnet Sloterdijk als einen empathielosen Blender, der nur in dem apathisierten akademischen Philosophiebetrieb des Nachkriegs-Deutschlands zum Modephilosophen avancieren konnte.



      Ferner untersucht der Autor Sloterdijks autobiografische Berichte zu seinen langen Aufenthalten im Ashram Oshos in Indien sowie dessen Bild von weiblicher Sexualität. Der Autor beschreibt Sloterdijk als einen Intellektuellen, der die Beschädigung seines persönlichen und akademischen Selbstwertgefühls mit inhaltsloser Sprache zu überspielen versucht.



      Trotz seiner grundsätzlichen Bedenken gegen die Tradition der deutschen Aufklärungsphilosophie würdigt der Autor Jürgen Habermas als »letzten deutschen Philosophen«.“

      Na Mahlzeit

      unterm——-servíce & Danke —



      www.bar-jeder-vern...rlin_Bar_01_20.pdf



      &



      “ DER SPIEGEL würdigte Reiner Geulen jüngst als »legendären Umweltrechtler« (H. 10/2018), lange nachdem ihm das Nachrichtenmagazin bereits nach einer Serie erfolgreicher Umwelt- Prozesse bescheinigt hatte, »zum Behördenschreck Nummer eins« avanciert zu sein (H. 27/1985).“

      • @Lowandorder:

        Also ich habe nur "Blender" und "Modephilosoph" verstanden.

        • @Jim Hawkins:

          Schonn ok.

          RA Reiner Geulen - ist halt ein Jurist von wirklicher Klasse. Mehr brauchts da halt einfach dann auch nicht. Newahr.



          Normal.

  • ...ist der Monotheismus geradezu eine antireligiöse Einrichtung, weil die religiöse Erfahrung gar nicht das Ziel ist, sondern die religiöse Identität."

    und in schlimmeren Fällen die religiöse Hirnwäsche.

    • @Justin Teim:

      Religion ist fast immer Gehirnwäsche. Was nehmen sich Eltern heraus, aus Kindern Christen, Moslem, Juden oder sonst etwas zu machen.

      Kein Kind würde von selbst an eine Religion glauben. Erst Gehirnwäsche, Manipulation, und Indoktrination macht aus Kindern willige Anhänger einer Religion

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Wenn von der "Überwindung der fremddefinierten Gruppenidentität" die Rede ist, hätte das Gespräch auch mal auf das Klassenbewußtsein kommen können. Aus strukturellen Ursachen war das wohl nicht möglich.

    Allerdings muss ich Sloterdijk halbwegs recht geben, wenn er sagt, dass die Religion erst frei sei, wenn sie keine gesellschaftliche Aufgabe mehr hätte. Da ist aber so heute eben gar nicht der Fall. Schließlich werden wir von der CDU/CDU regiert.



    Allerdings wäre es sowohl von Sloterdijk als auch von Anhänger:innen einer Glaubensreligion zuviel verlangt, diese Freiheit in der unverbauten religiösen Erfahrung zu finden. Wenn man vom Sufismus und der negativen Theologie eines Meister Eckart mal absieht, ist der Monotheismus geradezu eine antireligiöse Einrichtung, weil die religiöse Erfahrung gar nicht das Ziel ist, sondern die religiöse Identität.

    • @85198 (Profil gelöscht):

      ...ist der Monotheismus geradezu eine antireligiöse Einrichtung, weil die religiöse Erfahrung gar nicht das Ziel ist, sondern die religiöse Identität."

      und in schlimmeren Fällen die religiöse Hirnwäsche.

    • @85198 (Profil gelöscht):

      was hat denn die CDU - außer dem Wörtchen "christliche" mit Religion im strikten Sinne, also einer dogmatischen Version, zu tun? Adenauers Zeiten sind lange vorbei.

      • @Monika Frommel :

        so gesehen lernt die cdu dazu. mitttelalter ist nicht mehr vermittelbar.

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @85198 (Profil gelöscht):

      *CDU/CSU

  • Tom Wohlfarth , Autor des Artikels,

    Lesermail:

    "Sehr geehrter Herr Wohlfarth,

    vielen Dank für den interessanten Bericht zur Podiumsdiskussion in Potsdam in der taz von heute.

    Nur ein kurzer Hinweis: Die Analogie von dem Elefanten hat Frau Gümüsay nicht selbst erfunden, sondern ist eine Standard-Analogie in asiatischen Religionen und handelt meist von Blinden, die den Elefanten ertasten.

    en.wikipedia.org/w...%20or%20the%20tusk.

    Viele Grüße"

    • @Tom Wohlfarth:

      & Womer grad dabei sin ist Gelegenheit:

      Den tazis mal wieder zu der gelungenen



      Auswahl ihrer so profunden Gäste zu -



      Gratulieren. Ja. Das hat was! Gellewelle.



      Frage is nur - Was?! - 👹 - Soweit mal 👻

  • "Der verbale Fremdenverkehr hat zu Epidemien des Mehrsagenkönnens geführt."

    Wie wahr - und zugleich wie traurig, denn genau das müssen wir tagtäglich erleben und verkraften.

  • Ja - lebt denn der - Alte Holzmichel - noch?!

    unterm——- na da schau her -



    Er lehrte bis 2017 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Philosophie und Ästhetik.



    “Die Besoldung erfolgt nach Besoldungsgruppe W 3 mit Funktionszulage.“

    Aber Steuern sind ihm RAUB!!! - 😱 - Sich jetzt aber auch noch die Pension reinpfeifen.



    Pfeife! Normal.



    & lausig lausig -



    taz.de/Essayband-v...oterdijk/!5285665/

    kurz - “Nicht Philosophen, sondern Hobbybastler und Briefmarkensammler



    Bilden das Rückgrat der Gesellschaft.“



    Aldous Huxley - Schöne neue Welt - (mit Elmauer Zuchtprogramm (c) P. Sloterdijk!;(



    pps - Das andere Peterle - le chefle vande Au Tor darf nicht fehlen. Gellewelle.



    taz.de/Peter-Slote...losophie/!5252627/

    Na Mahlzeit

    • @Lowandorder:

      Leo Fischer gibt den Peter Sloterdijk a.k.a Alter Holzmichel:

      jungle.world/artik...uechtigen-vernunft

      • @Jim Hawkins:

        Danke.

        Da kannste nur noch Waidmanns Heil wünschen - 🧙‍♀️ -