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Führungsvakuum bei der OSZEKrise mit Ansagen

Ralf Leonhard
Kommentar von Ralf Leonhard

Immer mehr Staaten der OSZE halten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für entbehrlich. Das Konfliktpotenzial wächst.

Für den nächsten Einsatz bereit: Russische Kriegsschiffe vor der Halbinsel Krim Foto: Alexey Pavlishak, reuters

D ass mit den Umbrüchen im ehemaligen Ostblock das einst von Francis Fukuyama vorausgesagte Ende der Geschichte nicht eingetreten ist, veranschaulicht gerade die Krise in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Der Streit über die Neubesetzung oder Verlängerung der vier Führungsposten offenbart, dass sich vor allem im Orbit Russlands neue Gräben auftun oder alte Gräben nie solide zugeschaufelt wurden.

Dass ausgerechnet Aserbaidschan die Krise losgetreten hat, ist kein Zufall. Schon 2015 wurde eine OSZE-Feldmission aus dem Land komplimentiert. Die Beobachter, die über den 1991 geschlossenen Waffenstillstand im zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittenen Gebiet Berg-Karabach wachen sollen, mussten fortan auf politische Berichterstattung, einschließlich der Frühwarnung bei entstehenden Konflikten, weitgehend verzichten.

Gerade das sind aber Kernkompetenzen der 1975 in Helsinki gegründeten Organisation. Damals ging es um Entspannung zwischen und Abrüstung in Ost und West. Für die Dissidenten im Sowjetreich war das von allen Regierungen unterzeichnete Dokument ein willkommenes Instrument, ihre Regierungen an die versprochenen Freiheiten zu erinnern.

Unter den heute 57 Mitgliedstaaten sind zwar Demokratien nach westlichem Zuschnitt in der Mehrheit, doch wächst die Anzahl der Regimes, die Opposition und Versammlungsfreiheit, plurale Medien und eine aktive Zivilgesellschaft für entbehrlich, ja störend halten. Wahlbeobachtermissionen der OSZE und Ratschläge für die Stärkung des Rechtsstaats werden als lästige Bevormundung betrachtet. So war es nur eine Frage der Zeit, bis es zum Eklat kommen würde.

Das Erfolgsgeheimnis der Organisation lag in ihrer Diskretion. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit wurden akute Konflikte entschärft oder zumindest eingefroren. In der Ostukraine und den von Russland beanspruchten georgischen Territorien Abchasien und Südossetien wurden viele Menschenleben gerettet, wenn auch keine Lösung erreicht. Denn jeder Beschluss muss im Konsens der 57 Mitglieder getroffen werden. Dass der schwelende Konflikt jetzt internationale Schlagzeilen macht, erleichtert die Einigung nicht.

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Ralf Leonhard
Auslandskorrespondent Österreich
*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.
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1 Kommentar

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  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    "Unter den heute 57 Mitgliedstaaten sind zwar Demokratien nach westlichem Zuschnitt in der Mehrheit, doch wächst die Anzahl der Regimes, die Opposition und Versammlungsfreiheit, plurale Medien und eine aktive Zivilgesellschaft für entbehrlich, ja störend halten. Wahlbeobachtermissionen der OSZE und Ratschläge für die Stärkung des Rechtsstaats werden als lästige Bevormundung betrachtet."

    Solange in den "Demokratien nach westlichem Zuschnitt" am rechtsstaatlichen Ersaufen-Lassen gefeilt wird und sich eiserne Verfechter des Rechtsstaates wie Seehofer erst "im Gleichgewicht" fühlen, wenn die zivile Seenotrettung kriminalisiert wird und Geflüchtete in Konzentrationslagern gefangen gehalten werden oder gleich an der Grenze erschossen werden, braucht man sich darüber nicht wundern.