: JAAAAMAIIIIIIIIKA!
100 Meter Sprint Was für ein Sieg! Usain Bolt ist wieder der Größte über 100 Meter! Was für ein Finale! Sieben Finalisten liefen schneller als zehn Sekunden! Was für ein Sieger! Und obendrein gewinnt Shelly-Ann Fraser-Pryce auch noch haushoch das Frauenrennen auf gleicher Strecke für ihr Land. Grandios! Erinnerungen an 1988 werden wach, als Ben Johnson gewann …
AUS LONDON ANDREAS RÜTTENAUER
Nach dem zweitschnellsten Lauf in der Geschichte des 100 Meter-Sprints (9,63 Sekunden) gibt Usain Bolt anderthalb Stunden lang voller Hingabe Interviews, lacht, freut sich und sagt Sätze, die er schon zehnmal gesagt hat, so, als wären sie ihm gerade durch den Kopf geschossen.
Absolut leidenschaftlich. Cool. Er spielt mit den Journalisten: „Ein paar von euch Typen haben an mir gezweifelt, haha. Und ich musste der Welt beweisen, dass ich der Größte bin, haha.“ Was für ein Entertainer! „Haha. Ich bin auf dem Weg, eine echte Legende zu werden. Hey Yohan, das ist doch so, oder?“ Er schreit in Richtung des Olympiazweiten Yohan Blake. Sein Landsmann ist in der Interviewzone schon zehn Meter weitergekommen als der Dominator. „Haha!“ Usain Bolt gibt der Welt, was sie will – a big show! Die Welt himmelt einen 25-Jährigen an, und der Meister genießt. Der Sprint der Männer wird zum größten Fest der Spiele.
Zwei heulende Amerikaner können den Fans die Party nicht vermiesen. Tyson Gay weint und weint und weint. Er kann nicht verstehen, wie es möglich sein kann, dass einer, der so schnell läuft wie er (9,80), am Ende doch nur Vierter wird. Und der Dritte des Rennens, Justin Gatlin ist auch nah am Wasser gebaut. Der Olympiasieger von 2004 war vier Jahre wegen Doping gesperrt. Jetzt staunt er nicht schlecht darüber, wie sich der Sprint verändert hat. „Da sind coole Typen draußen, und der Schnellste ist einfach eine große Schau.“ Aus dem Bahnlaufen, wie er es kannte, ist ein Unterhaltungsbusiness geworden. „Und es ist unglaublich, dass ich dazugehöre.“ Schluchz!
Die schnellsten Männer der Welt haben sich freigelaufen. Sie reden von den Opfern, die sie bringen, als würden sie in Straflagern gehalten, um ein paarmal im Jahr auf die Laufbahn gelassen zu werden. Sie fühlen sich wie Gladiatoren und können sich darauf verlassen, dass keiner sie schlachten will, wenn ihre Zeit einmal abgelaufen ist. Ihre Körper werden filigran beschrieben, damit sie angehimmelt werden können. Der große Bolt, der starke Blake und, ja, auch Gatlin mit seinen kräftigen Stampfern. Sie gelten als schön. Wenn sie laufen, dann stehen im Ziel die Agenten und verhandeln über Werbeverträge. Usain Bolt soll im Jahr 12,5 Millionen Dollar verdienen.
Wenn er nach dem Rennen Kopfhörer aufsetzt, dann macht er das gewiss nicht nur, um Musik zu hören. Bolt hat sie selbst designt – in den jamaikanischen Farben. „Das ist auch ein wichtiger Tag für Jamaika“, sagt er. Der Bolt-Kopfhörer ist für 350 Dollar zu haben. Laufen lohnt sich, auch weil sich die Geschichte der großen Sprintermedaillen für das kleine Jamaika so gut anhören.
Am Tag vor Bolts Triumph war es Shelly-Anne Fraser-Pryce, die vom karibischen Wunder erzählen sollte, hinter dem ein überaus professionelles Trainingssystem steht – die Bahn, auf der Bolt 2009 in Berlin Weltrekord gelaufen ist, wurde in Kingston nachgebaut. Fraser-Price ist zum zweiten Mal nach Peking 2008 Olympiasiegerin über 100 Meter geworden, indem sie die favorisierte US-Sprinterin Carmelita Jeter zur Statistin degradierte – wenn auch zu einer mit Silber belohnten. Sie sagt, dass sie sich wohlfühlt im Schatten von Bolt. Wenn sie in Jamaika erkannt wird, werde sie eigentlich nur nach Usain gefragt. Süß fanden das die meisten und legten sich ihr zu Füßen. Dass sie ein halbes Jahr gesperrt war, weil sie ein verbotenes Schmerzmittel benutzt hatte, wen interessiert das schon, wenn man Zeuge werden kann, wie eine Sportlerin zum Star wird.
Wo sind nur all die Zweifel geblieben? Als Bolt in Peking die Sportwelt mit seinem irrwitzigen ersten Weltrekord (9,69) erschütterte, wurde über irgendein jamaikanisches Wurzelgebräu spekuliert. Fragen, die ihm Raum stehen, will sich nun kaum einer mehr stellen. Auch Yohan Blake musste einmal drei Monate aussetzen, weil er sich mit einem Stimulanzmittel aufgeputscht hatte. Die Show soll laufen. Als Bolt lange nach seinem siegreichen Lauf, nach einem fast zweistündigen Interviewmarathon endlich zur Dopingkontrolle abgeholt wird, gibt es kein Bangen. Der schnellste Mann der Welt wird schon nicht überführt.
Mit einem Schock rechnet niemand. Den gab es 1988 bei den Spielen in Seoul. Auch damals sollte das 100-Meter-Finale the big show werden. Olympia war gerade dabei, sich dem großen Markt zu öffnen. Die Tennisprofis wurden in die olympische Familie aufgenommen, die Sprinter sollten die ersten Superprofis werden, die sich die olympische Bewegung selbst baut. Der Ami Carl Lewis, der bei den wertlosen Boykottspielen von Los Angeles 1984 viermal Gold gewonnen hatte, wurde von Ben Johnson geschlagen. Dessen Lauf elektrisierte die Welt. Johnsons 9,79 Sekunden wurden als ein Rekord für die Ewigkeit gefeiert – zwei Tage lang. Dann kam der niederschmetternd positive Dopingbefund, und der Sprint schien dem sicheren Tod entgegenzustreben. 100 Meter Sprint – eine einzige Dopinghölle. Nach und nach ward bekannt, sechs der acht Finalteilnehmer von Seoul haben irgendwann einmal gedopt.
Es ist eine irrwitzige Liste des Sportbetrugs: Carl Lewis, der Zweite des Rennens und später zum Sieger von Seoul gekürt, wurde vor US-Meisterschaften dreimal positiv getestet. Er konnte angeblich nichts dafür. Der Brite Linford Christie, der in Barcelona 1992 Gold holen sollte, begründete seinen positiven Befund mit Ginseng-Tee. Dennis Michel schob seine irrwitzigen Testosteron-Werte auf Dauersex mit seiner Freundin. Desai Williams soll die selben Mittel bekommen haben wie sein Landsmann Johnson. Und Ray Steward gab irgendwann zu, jahrelang beschissen zu haben. Seit Seoul lag ein schwerer Schatten auf der Paradestrecke der Leichtathletik – bis Usain Bolt die Szene 2008 erlöst hat.
Der Messias des Sprints hat auch in London eines seiner Wunder vollbracht. Er ist dabei, ein neues Testament zu begründen. Der Sprint ist die heilige Messe einer neuen Sportreligion, in der nicht mehr gezweifelt, sondern einfach nur geglaubt wird. Für den Zweifel haben wir die Chinesen, der Gott heißt Bolt. Lightning Bolt wird er genannt – der Erleuchtete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen