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Sexuelle Gewalt im US-SportIn den Dunkelkammern

Die Netflix-Doku „Athlete A“ beleuchtet den sexuellen Missbrauchsskandal im US-Turnverband und die begünstigenden Strukturen des Sports.

Eine Frage der Macht: Vor Gericht helfen Sexualverbrecher Larry Nassar keine Sportfunktionäre mehr Foto: Cory Morse/ZUMA Press/imago

E s war mehr oder minder Zufall, dass die Reporter:innen des Indianapolis Star die Dunkelkammern des Sports an dieser einen Stelle ausgeleuchtet haben. Der Sitz des US-Turnverbands liegt nun mal in der Hauptstadt des US-Bundesstaats Indiana. Und so schauten sie im Jahr 2014 mal genau hin, wie der Verband so grundsätzlich mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs umging.

Die erste Geschichte brachte schon Unglaubliches hervor. Anschuldigungen gegen 54 Trainer im Verband wurde nicht nachgegangen, weil die Klagen nicht von den Betroffenen selbst oder den Eltern eingereicht wurden. Nach dem Erscheinen des Artikels meldeten sich drei Frauen, die vom Missbrauch durch den Verbandsarzt Larry Nassar erzählten. Es folgten bis heute mehr als 250 weitere Frauen, die gegen Nassar aussagten, der im Januar 2018 zu einer Haftstrafe von bis zu 175 Jahren verurteilt wurde.

Entlang der Recherchegeschichte der Journalist:innen erzählt der amerikanische Dokumentarfilm „Athlete A“ vom größten Missbrauchsskandal der Sportgeschichte. Für sexuelle Gewalt ist der Sport, so erzählen es deren Interessenvertreter gern, so anfällig wie jeder andere gesellschaftliche Bereich auch. Wer sich das auf Netflix verfügbare Werk der Regisseure Bonni Cohen und Jon Shenk anschaut, wird daran aber zweifeln müssen.

Dokumentationen zu Missbrauch im Sport sind sowieso Mangelware. Was den Film aber zudem wertvoll macht, ist sein analytischer, tiefgründiger Blick. Er verliert sich nicht wie viele Berichterstatter:innen in der häufig boulevardesken Fixierung auf den Täter, sondern beleuchtet die monströsen Strukturen und die toxische Kultur des US-Turnverbands.

Der vermeintlich Gute im Schreckensregime

Es ist nämlich ein ganz bestimmtes Umfeld, das Nassars Taten erst begünstigt und später dann gar gedeckt hat. In einem Ausschnitt aus dem Gerichtsprozess kommt dies sehr deutlich zum Vorschein. Jamie Dantzscher, Mitglied im US-Auswahlteam wendet sich direkt an Nassar und sagt, er habe über viele Jahre all die physischen und psychischen Misshandlungen der Trainer und Teammitarbeiter miterlebt, sich auf Seiten der Turnerinnen gestellt und diese als Monster bezeichnet. Geholfen habe er ihnen nicht. Stattdessen habe er seine Machtposition ausgenutzt, selbst manipuliert und missbraucht.

Nassar mimte in einem Schreckensregime osteuropäischer Schule, das von dem prominenten Trainerpaar Béla und Mártha Károlyi (Exil-Rumänen) geleitet wurde, den Guten. „Larry war der einzig nette Erwachsene“, berichtet Dantzscher. Er steckte den machtlosen Athletinnen Süßes zu und manipulierte und missbrauchte sie auf seine Weise. Das Eindringen mit dem Finger in die Vagina gab er etwa als Behandlungsmethode aus.

Das System der Vertuschung greift auch im Fall Nassar, der 29 Jahre für den Verband tätig war. Bereits 1995 gab es die ersten Hinweise. Als die Trainerin von Maggie Nichols, einem der größten Talente im US-Turnen, 2015 verbandsintern vom Missbrauch Nassars an ihrer Sportlerin berichtet, unternimmt Präsident Steve Penny, ehemals im Sportmarketing beschäftigt, alles, um die Geschichte nicht nach außen dringen zu lassen. In den Akten des Verbandes wird Nichols als „Athlete A“ geführt.

Die Auswüchse der Skrupel- und Rücksichtslosigkeit des Verbandes sind bis heute nicht aufgearbeitet. Die Doku nimmt deren Wurzeln genau in Augenschein. Bereits in den 70er Jahren, berichtet die Auswahlturnerin Jennifer Sey, sei Grausamkeit die Methode gewesen. Mit dem Erfolg der beiden Karolyis, die 1976 der rumänischen Wunderturnerin Nadia Comăneci im Alter von 14 Jahren bei den Olympischen Spielen in Montreal zu Weltruhm verhalfen, verjüngten sich jedoch die Opfer der Turnerinnenschmieden. Das Machtgefälle und die Gelegenheiten für physischen, emotionalen und sexuellen Missbrauch wurden größer.

Von diesem Klima der Angst lebte der ach so verständige Larry Nassar parasitär. Sein Ansehen und seine Stellung halfen ihm aber auch jenseits des Schreckensregimes bei der Behandlung von jungen Amateurturnerinnen, über alle Grenzen hinwegzugehen.

„Athlete A“ dokumentiert eindrücklich, welche Narrenfreiheit die Mächtigen in einem Leistungssportsystem genießen können und wie schwierig es ist, solche Systeme zum Kollabieren zu bringen. Umso kraftvoller wirkt das Ende, als eine Frau nach der anderen im Gerichtssaal vor Nassar auftritt und das Schweigen der Vergangenheit überwindet. Machtlos wirkt nun nur noch der Täter Larry Nassar.

Die Netflix-Produktion ist ein wichtiges Stück Aufklärung, das insbesondere möglichst vielen Menschen aus dem Sport zugänglich gemacht werden sollte. Ein Film, für den unbedingt allerorten mal eine Trainingseinheit gestrichen werden sollte, damit sich ihn Athlet:innen, Trainer:innen und Betreuer:innen zusammen anschauen können.

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taz-Sportredakteur
Jahrgang 1971, bis Ende März 2014 frei journalistisch tätig. Seither fest mit dem Leibesübungen-Ressort verbunden.
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