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WirtschaftsweisenSelbstheilung der Unterlegenen

Die soziale Klasse wird zunehmend Literaturthema – verbunden damit ist eine Renaissance des Männerwitzes.

Heimstatt der Herrenwitze: die Eckkneipe Foto: dpa

M ännerwitze sind Handarbeiterwitze. Klar, es gibt Beamtenwitze, Hausmeisterwitze, Chefwitze, Arztwitze usw., aber das sind, wenn nicht Kopfarbeiter- dann Berufsgruppenwitze. „Männerhumor mit seinen Witzen über Bier und nackte Frauen scheint einerseits völlig aus der Zeit gefallen, andererseits hält er sich hartnäckig“, schreibt Die Welt. Sie gehören zu einer bestimmten Existenzform, die in Westdeutschland bis in die jüngste Zeit verbreitet war: Der Mann malocht, verdient die Kohle und die Frau versorgt den Haushalt und die Kinder. Um Abstand von beidem zu gewinnen, geht er in „seine“ Kneipe. „Frau Wirtin“, ruft er beim Betreten, „habe ich gestern Abend wirklich 20 Mark versoffen?“ Als die Wirtin ihm das bestätigt, sagt er: „Gott sei Dank, ich dachte schon, ich hätte die Kohle verprasst.“

Viele Männerwitze machen sich auf Kosten der Ehefrauen lustig. Es gab Zeiten, da gingen diese freitags ans Fabriktor und nahmen ihren Männern nach Schichtende die Lohntüten ab, damit die das Geld nicht versoffen. Erst kürzlich erzählte ein Berliner Autor auf einer Veranstaltung, dass er Bücher sammele, und wenn er im Antiquariat war, müsse er aufpassen, dass seine Frau nicht mitbekomme, was er dafür wieder ausgegeben habe. Im Publikum wurde gelacht. Nun wusste ich aber, dass seine Frau eine gut verdienende Juristin ist und sich für sein Geld überhaupt nicht interessiert, höchstens für das eine oder andere Buch. Mich ärgerte diese Verdrehung der Wahrheit ins Konservative auf Kosten seiner Frau.

Männerwitze ganz anderer Art erzählt der Freitag-Redakteur Christian Baron in seinem Buch „Ein Mann seiner Klasse“ (2020), womit sein Vater gemeint ist – ein Möbelpacker, der sich eine Familie mit vier Kindern leistete. Von ihm stammt der eingangs erzählte Bierwitz. Noch einen erzählte er in seiner Kneipe: „Ein Gefängnisdirektor staucht seinen Wärter zusammen: „‚Wie konnte der Mann nur ausbrechen? Und das aus’m Hochsicherheitstrakt?‘ ‚Er hatte den Schlüssel.‘ ‚Waas‘, fragt der Direktor, ‚etwa gestohlen?‘ ‚Nein, ehrlich beim Poker gewonnen.‘“

Der Männerwitz, ebenso wie der einstige Witz der Berliner, ist die verbale Selbstheilung eines Unterlegenen. Christian Barons Vater oder vielmehr sein Milieu im Kaiserlauterner Arbeiterviertel und das Aufwachsen seines Sohnes (des Autors) darin, ist ein kaum auszuhaltendes westdeutsches Arbeiterklassenklischee – bis dahin, dass sein Sohn als einziger von vier Kindern den Ausbruch aus seiner „Klasse“ schafft und Soziologe wird.

Brutal ehrliche Klischees

Das Klischee, das er ausmalt, ist brutal ehrlich. Als Kind fand Christian Baron es am Schönsten, mit in die Kneipe genommen zu werden, wo sein Vater so beliebt war. Er wollte so werden wie sein Vater. Später hörte er oft den nicht sonderlich wohlgemeinten Satz „Du bist seltsam“ – u. a. von einer Deutschlehrerin, „weil ich als Einserschüler auf die Frage nach meiner Lieblingslektüre die Bild-Zeitung angab“.

Die Biografie „Ein Mann seiner Klasse“, die zugleich eine Autobiografie ist, hat Vorläufer in Frankreich – beginnend mit den Büchern von Annie Ernaux, deren lakonisch-melancholischer Ton, der Intimstes zur Sprache bringt, auch in Christian Barons Buch anklingt. Ebenso Didier Eribons Versuch, das eigene proletarische Herkommen in seiner soziologischen Dimension zu begreifen. Und ähnlich wie Édouard Louis’ Roman „Das Ende von Eddy“, ein internationaler Bestseller. 2018 veröffentlichte er eine Vater-Biografie: „Wer hat meinen Vater umgebracht“.

Darin gehe es um die „Zerstörungsmacht der Politik, beispielsweise darum, wie sie einen Körper zerstören kann“, erklärte er. „Je stärker die soziale Klasse, der Sie angehören, den Herrschaftsverhältnissen unterworfen ist, desto unmittelbarer sind die Auswirkungen der Politik auf Ihr Leben.“ Die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit hat aus Not, dafür sehr einfühlsam die Schriftstellerin Katja Oskamp in ihren erlebten „Geschichten einer Fußpflegerin: Marzahn mon Amour“ (2019) gewählt.

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Autor
geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.
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4 Kommentare

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  • 0G
    02881 (Profil gelöscht)

    Sehr schöner Text - danke!! Auch für die Lesetipps...

  • Ein Intelektueller, der sich am Männerwitz der Arbeiterklasse versucht liefert schon direkt ein Beispiel, daß ihm der Zugang dazu zu fehlen scheint:



    *Männerwitze sind Handarbeiterwitze*



    In Baustellen/Fabriken u.ä ist der Satz schon doppeldeutig und je nach Kontext zu verstehen.

    *Sie gehören zu einer bestimmten Existenzform, die in Westdeutschland bis in die jüngste Zeit verbreitet war: Der Mann malocht, verdient die Kohle und die Frau versorgt den Haushalt und die Kinder*



    Wieso Westdeutschland? Das beschriebene Rollenmodell ist doch spätestens seit der Industrialisierung in deutschlandweit in Gebrauch, egal ob West oder Ost, ebenso das Lohntütenphänomen und es dürfte auch heute noch weithin in Gebrauch sein, in Ost und West.



    Wieso also dieses unterschwellige "die blöden/bösen Wessies"- Bild, wenn der Osten da kaum besser aufgestellt ist?

    • @Wundersam:

      Das verstehendes Lesen zu lehren, scheint wirklich keine Stärke des deutschen Bildungssystems zu sein.

      Hier wird weder das Bild blöder noch eins böser Wessis gemalt. Auch nicht unterschwellig. Es geht einfach um Lebensumstände und darum, dass sich diese Umstände auf den Humor auswirken. Ergibt sich die Frage: Wo ist eigentlich Ihr Humor geblieben und warum? Was meinen Sie?

      Übrigens: Ich würde nie behaupten, dass es DEN Ost-Humor gibt. Aber grade unter den älteren Semestern scheinen gewisse Nachwende-Erfahrungen doch einen gewissen Kollektiv-Humor zu bedingen. Wer sich als Verlierer fühlt, lacht halt immer noch irgendwie anders. Und nein: „Besser aufgestellt“ ist „der Osten“ nicht. Anders aufgestellt ist er allerdings allemal. Wobei Vor- und Nachwende-Humor meiner Ansicht nach wenig miteinander gemein haben.

      • @mowgli:

        Das mit dem verstehenden Lesen üben wir dann beide noch einmal ;-)

        Ich bezog mich zunächst einmal auf das beschriebene Rollenmodell, das nun einmal flächendeckend weit verbreitet in der deutschen "Arbeiterklasse" war und ist. Was mich stört, ist die Zuordnung "westdeutsch", die das Bild vermittelt, im Osten sei es signifikant anders gewesen, was meinen Erkenntnissen aus Gesprächen mit Verwandten, Kollegen (aus dem Osten) und anderen Arbeitern widerspricht (ich bin 60 und West). Statistiken lassen sich dazu bestimmt finden.



        Das "blöd/böse" ist nun einmal das Bild, das sich bei derartigen Formulierungen bei mir einstellt, weil ich auch oft genug gehört habe, "im Osten war alles besser".

        Natürlich beeinflussen die Lebensumstände auch die Sicht auf die Dinge und damit den Humor.

        Was meinen Humor angeht, so ist der durchaus vorhanden, Wurde aber nicht zum Einsatz gebracht, da mir der Punkt "westdeutsch" mit meiner Interpretation desselben Humor unangemessen schien. Am Rande, sind Ihnen die verscjiedenen Bedeutungen des Begriffes Handarbeit unter Berücksichtigung des Milieus bekannt?



        *In Baustellen/Fabriken u.ä ist der Satz schon doppeldeutig und je nach Kontext zu verstehen.*