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Buch zum bedingungslosen GrundeinkommenEntschleunigung wäre möglich

Die Coronakrise hat die Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen befeuert. Das Buch von Adrienne Goehler liefert Argumente.

Strukturwandel als Chance? Boxberg in der Lausitz könnte als Modell für das Grundeinkommen dienen Foto: Florian Gaertner/dpa

Ein bemerkenswertes, wenngleich wenig beachtetes Ergebnis ist im unlängst veröffentlichten Bericht über das Experiment mit dem Grundeinkommen in Finnland enthalten. Die Teilnehmer*innen, die 2017/18 in den Genuss der Sozialleistung kamen, arbeiteten in dieser Zeit etwas mehr als vorher. Und die Zahl ihrer Arbeitstage überstieg die der Erwerbslosen außerhalb des Experiments.

So hat das Grundeinkommen wohl beigetragen, die Motivation zu erhöhen, sich zusätzliche Tätigkeiten zu suchen. Die mindestens ebenso wichtige Botschaft liegt aber darin, dass die Bezieher*innen des Grundeinkommens nicht weniger gearbeitet haben als zuvor. Offenbar wirkten die 560 Euro, die ihnen monatlich ohne Bedingungen aufs Konto überwiesen wurden, nicht als Anreiz, die Hände in den Schoß zu legen.

Dieses Ergebnis widerspricht der oft geäußerten Befürchtung, der Bezug eines Grundeinkommens mache faul und verführe die Empfänger*innen, es sich auf Kosten der Gesellschaft in der sozialen Hängematte bequem zu machen.

Hartmut Rosa, Soziologe an der Universität Jena, findet diese Erkenntnis nicht erstaunlich. Im neuen Buch von Adrienne Goehler sagt er, das Grundeinkommen könne Menschen die Angst vor dem sozialen Absturz und dem Versagen in der Leistungsgesellschaft nehmen. „Es schafft eine existenzielle Sicherheit für die gesamte Gesellschaft“, so Rosa.

Diese Sicherheit „pazifiziert die Existenz, sie befriedet unser In-der-Welt-Sein, sodass es überhaupt wieder möglich ist, in Resonanz zu kommen – mit uns selbst, mit der Welt, mit der Natur.“ Und ein Effekt positiver Beziehungen kann eben auch sein, Tätigsein als bereichernd zu empfinden und eher mehr als weniger arbeiten zu wollen.

Das große Hamsterrad

Hunderttausende Unterzeichner*innen diverser aktueller Petitionen zur Einführung des Grundeinkommens in Deutschland dürften diese Gedankengänge ebenfalls nicht überraschen. Wegen der Coronakrise drehte sich das große Hamsterrad für einige Wochen weniger schnell. Viele Leute genossen die Ruhe auf den Straßen, den nachlassenden Termindruck, die abendliche Muße ohne Ausgehzwang, den neuen Raum für Gedanken und Gefühle, die Entschleunigung. Sie freuten sich an der klaren Luft in den Städten und der Rückkehr der Delfine in den Bosporus.

Und doch rotierte das Hamsterrad auch weiter. Denn plötzlich traten Existenzsorgen in den Vordergrund, die jahrelang keine Rolle gespielt hatten. Wie soll ich mich als Sängerin ernähren, wenn alle Konzerte abgesagt werden und ich nicht auftreten kann? Wenn mein Restaurant monatelang geschlossen bleibt, muss ich Insolvenz anmelden. Hält die Firma, in der ich arbeite, die Krise durch oder wird sie bald meinen Job streichen?

Corona führte zu beidem – Entschleunigung und Existenzangst. Möglicherweise liegt in dieser Gleichzeitigkeit die Ursache für die neue Aktualität des Grundeinkommens. Erhielten alle Bürger*innen beispielsweise 1.000 Euro monatlich als bedingungslose Transferleistung vom Staat, könnten die einen etwas Tempo aus ihrem stressigen Alltag rausnehmen, die anderen müssten nicht befürchten, in die Hartz-IV-Mühle zu geraten.

In diese Situation hinein ist jetzt das neue Buch von Adrienne Goehler erschienen. Es trägt den programmatischen, thesenhaften und komplizierten Titel „Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grundein/auskommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit“.

Mit Nachhaltigkeit verknüpfen

Goehler, Jahrgang 1955, war Gründungsmitglied der Grünen, in den 1990ern Präsidentin der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, Anfang der 2000er kurz grüne Kultursenatorin von Berlin, später Aufsichtsrätin der taz. Zusammen mit Götz Werner, dem ehemaligen Chef der Drogeriekette dm, veröffentlichte sie bereits 2010 ein Buch zum Grundeinkommen. Der aktuelle Band bietet nun eine Sammlung zahlreicher Texte, Essays und Interviews unter anderem mit Künstler*innen, Ökonom*innen, Politik*innen und Wissenschaftler*innen, entstanden während Goehlers zweijähriger Mitarbeit am Institut für Nachhaltigkeitsstudien (IASS) in Potsdam.

Ihr zentrales Anliegen besteht darin, zwei Debatten, die bisher oft getrennt voneinander ablaufen, miteinander zu verknüpfen – die öffentlichen Diskussionen über Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Goehler schreibt, zugespitzt: kein Klimaschutz ohne sozialen Ausgleich. Erst wenn sich die Bürger*innen sozial und ökonomisch abgesichert fühlten, seien sie bereit und willens, an einer ökologischen Transformation mitzuwirken, die zu Beschränkungen von bisher bekanntem Wohlstand und Konsum führen könne.

Das Buch

Adrienne Goehler: „Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grundein/auskommen ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit“. Parthas Verlag, Berlin 2020, 356 Seiten, 18 Euro

Hier kommt das Grundeinkommen als eine Möglichkeit ins Spiel, allen Menschen – im Idealfall nicht nur in reichen, sondern auch armen Ländern – eine Existenzgrundlage zu bieten und gleichzeitig Wachstumsdruck aus der Hochleistungsgesellschaft herausnehmen.

Denn erhielten alle Bürger*innen ein garantiertes „Grundauskommen“ auf Basis eines sozialen Menschenrechts, könnte das den Zwang vermindern, ständig neue Arbeitsplätze als Ersatz für wegrationalisierte Stellen aus dem Boden stampfen, Produktion und umweltschädlichen Ressourceneinsatz permanent erhöhen zu müssen.

Die Praxistauglichkeit

In mehreren Interviews entwickeln Goehlers Gesprächspartner*innen den Vorschlag, die Praxistauglichkeit des Modells in einem großen Experiment in der brandenburgisch-sächsischen Lausitz auszuprobieren. Gut eine Million Menschen würden dort mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ausgestattet, um den geplanten Ausstieg aus der Braunkohle-Ökonomie zu begleiten.

Wären die politischen Mehrheiten in Land und Bund bereit, ein solches gesellschaftliches Labor zu ermöglichen, hätte dies durchaus Sinn. Zum einen lässt sich die Vergleichbarkeit herstellen, wenn in den anderen Kohleregionen – Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – der Strukturwandel nach konventionellen Maßstäben abläuft.

Außerdem könnte man unter realen Bedingungen Antworten auf Fragen finden, über die bisher immer nur theoretisch gestritten wird. Zum Beispiel: Wie reguliert man den Zuzug von Leuten aus anderen Regionen in das attraktive Sozialmodell?

Wie viele zusätzliche Kosten verursacht die Veranstaltung über die schon heute für den Sozialstaat nötigen Finanzen hinaus? Verabschieden sich Zehntausende Beschäftigte in den vorzeitigen Ruhestand, weil sie nicht mehr jeden Ausbeuterjob annehmen müssen?

Ist die Bevölkerung liberal genug, das zu akzeptieren? Kann eine entschleunigte, wachstumsarme Gesellschaft den Wohlstand produzieren, der nötig ist, um das bedingungslose Grundeinkommen für alle zu finanzieren?

Weniger als 40 Jahre sollte man wahrscheinlich nicht veranschlagen, um in einem solchen Experiment belastbare Aussagen zu erhalten.

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6 Kommentare

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  • wie immer wird bloss die ausgabenseite betrachtet die 80 milliarden pro monat müssen auf der anderen seite aber als steuern wieder reinkommen.also muss jeder euro der zusätzlich verdient wird 3-4x so stark besteuert werden wie bisher also eingangssteuersatz 60% aufwärts wie hoch ist dann noch die moral arbeiten zu gehen?

  • Die Idee hat durchaus Charme, wenn es wirklich eine Pauschale für ausnahmslos alle wäre und nicht durch Sonderbedarf verwässert würde. Der eine will das Doppelte, weil er mit dem Betrag nicht einmal die Wohnung finanzieren kann, der andere braucht das Fünffache, weil er 5 Kinder hat und ein anderer missgönnt den Betrag schlichtweg denjenigen, die Mieteinnahmen haben. Die Vereinfachung und die Grundidee macht man damit zunichte.

  • Ich liebe die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Leider ist die Kritik von Verdi daran auch nicht ganz ohne: wipo.verdi.de/++fi...Grundeinkommen.pdf



    Es besteht sogar die Gefahr, dass die soziale Ungleichheit damit noch ansteigt. Deshalb habe ich folgenden Kompromissvorschlag:

    Der Betrag dieses BGE würde sich an der neoliberalen Variante orientieren. Grundsatz: So hoch wie möglich, so niedrig wie finanzierbar. Erhöhen können wir den Betrag im Zweifel später immer noch, wenn die Erfahrungen damit positiv sind.

    Gleichzeitig bleiben aber auch alle bisherigen Sozialleistungen bestehen. Das gilt auch für Hartz IV; allerdings dürfte das BGE nicht auf den Regelsatz angerechnet werden, sondern würde zusätzlich ausgezahlt. Ebenso müssten selbstverständlich alle Regulierungen des Arbeitsmarktes zugunsten von Arbeitnehmer*innen bestehen bleiben.

    Eine zusätzliche Steuer würde allen Menschen mit höheren Einkommen als einem festzulegenden Grenzbetrag das BGE wieder entziehen. Zu den Einkommen zählen dabei auch Kapitalerträge, Miet- und Pachteinnahmen u.Ä. sowie Sozialleistungen wie Kranken- und Arbeitslosengeld sowie



    Renten und Pensionen. Wer weniger bekommt als den Grenzbetrag, aber mehr als die Steuerfreigrenze, zahlt entsprechend weniger.

    Lohndumping infolge eines BGE ließe sich vermutlich vermeiden, indem Unternehmen, die nicht nach Tarif bezahlen, mit einer eigenen möglichst hohen Steuer verpflichtet werden, zu den Kosten eines BGE beizutragen. Gerichte müssten dann ggfs. klären, ob ein Unternehmen seine Mitarbeiter*innen nach dem richtigen Tarif bezahlt (z.B. Amazon: Logistik- statt Einzelhandelstarif). Dies sollte die Tarifbindung fördern anstatt schwächen.

    Weitere Finanzierungsmöglichkeiten:



    - progressive (!) Erbschaftssteuern



    - progressive Vermögenssteuer



    - deutlich höherer Spitzensteuersatz



    - last but not least: konsequenter Kampf gegen Steuerbetrug

  • Frage: Die durchschnittliche Transferleistung für AlG2 ist knapp 1000€ pro Monat inkl. Sozialversicherungen. Ist nun der Unterschied zu den geforderten 1000€ die Bedingungslosigkeit?

    Ansonsten sind Antworten für die im Artikels aufgeführten Fragen essenziell - idealerweise vorher - nachher kann jeder.

  • Das man bei 560 Euro in Finnlands Versuch noch weiterarbeitet, verwundert nicht. Schliesslich reicht es sonst vorne und hinten nicht.

    Die Corona Krise zeigt eigentlich, dass da BGE nicht funktionieren wird. Die oft zitierten 1000 Euro gibt es nur, wenn sämtliche bisherigen Sozialleistungen einberechnet werden und die Wirtschaftsleistung nicht schrumpft. Bisher haben die Sozialleistungen aber an Bedingungen geknüpft: Bedürftigkeit, besondere Fördermassnahmen, wie Kindergeld. Wenn diese Umverteilung nicht mehr gezielt stattfindet, wird es in den Brennpunkten fehlen.

    Und wenn aufgrund von fehlendem Wachstum, weil alle es so entspannt finden, Steuereinnahmen wegbrechen, wird der Betrag nicht mehr zu halten sein und alles beginnt von vorne.

    Gerade die Kämpfe umd die Mittelverteilung in der Coronakrise zeigt, dass sie auch erstmal erwirtschaftet werden müssen.

  • Was die Politik scheinbar völlig vergessen hat ist, dass die Grundlage jeder Arbeit eigentlich Motivation ist. Im Gegensatz dazu wird von Parteien aller Couleur seit Jahren die Arbeit als Druckmittel bewertet, nach dem Motto du arbeitest oder fällst aus einem menschenwürdigen Sozialnetz. Das Resultat ist überall sichtbar: Menschen werden immer häufiger psychisch krank, sind dann erst recht für diese Arbeitswelt unbrauchbar, mit enormen sozialen Folgekosten. Man merkt auch im privaten Umfeld, dass die Mehrheit der Menschen seit Jahren immer unzufriedener wird. Es wurden Milliarden zur Rettung von Banken verwendet, jetzt werden wieder Milliarden umverteilt und auch ins Gesundheitssystem gesteckt, aber kein Wort von einem Grundeinkommen, das Menschen wirklich ganzheitlich gesunden würde, indem es vom Druck befreit, immer den sozialen Absturz vor Augen zu haben. Es war der größte Fehler der Politik, dass ausgerechnet Rot-Grün seinerzeit die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und alle nach einem Jahr in Hartz4 verschoben wurden. Den Preis zahlen wir seit Jahrzehnten mit immer mehr Frust, Billigjobs, Psychosen und körperlichen Krankheiten zugunsten eines Systems, das Menschen im Hamsterrad degradiert zu widerspruchslosen Leistungserbringern und auch noch als Erfolgsmodell verkauft wird. Wenn jetzt nach Corona der Arbeitsdruck noch größer wird, wird sich alles irgendwann in einer Bewegung entladen, die etablierte Leistungspolitik radikal ablehnt und eine Arbeitsrevolution des 21. Jahrhunderts auslöst. Es wäre also sinnvoller, schon vorher umzusteuern, bevor sich der Zorn des Volkes erst einmal richtig entlädt wie derzeit in Hongkong, denn dann wird es umso schwerer, ihn wieder einzufangen. Leider sitzt die Politik mal wieder wie gewohnt das Problem aus, verfolgt weiter mutlos denselben Weg, solange etwas irgendwie noch einigermaßen funktioniert und die Wähler brav mitspielen, wird nichts oder wenig verändert. Ein schwerer Fehler, der sich noch bitter rächen wird.