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Politik in Zeiten von CoronaRegieren nach Zahlen

Kommentar von Adrian Lobe

Die Politik höre in der Coronakrise endlich auf die Wissenschaft, loben Kritiker. Doch das führt zu einer Depolitisierung des politischen Systems.

Der Fußball macht es vor: Wissenschaft ist nicht alles im Kampf gegen Corona Foto: Sascha Schuermann/afp

E s ist zum täglichen Ritual geworden, der Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu folgen. „Fieberkurve der Gesellschaft“, so könnte man die epidemiologischen Bulletins, die mit einem Beipackzettel möglicher Risiken dargereicht werden, überschreiben. Hatte Zahlenlehre einst den Charme eines verstaubten Hochschulseminars, ist Statistik plötzlich sexy.

Jeder hat zumindest schon mal was von der Reproduktionszahl R oder der Verdoppelungsrate gehört. Endlich mal ein sachlicher Diskurs! Endlich eine emotionslose, auf Fakten gestützte Politik! Wo US-Präsident Donald Trump den Rat von Experten ignoriert und haarsträubende Therapien vorschlägt, stützt die Bundesregierung ihre Maßnahmen auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Politik hört endlich auf die Wissenschaft, heißt es. Warum nicht gleich so? Das Klima wäre längst gerettet! Doch was die einen als evidenzbasierte Politik feiern, bedeutet in Wahrheit eine Entpolitisierung des politischen Systems.

Gerade weil die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen – Öffnungsverbote, Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht – sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, neigen sie dazu, sich gegen gesellschaftlichen Widerspruch zu immunisieren. Wer die Beschlüsse kritisiert, setzt sich dem Verdacht der Wissenschaftsfeindlichkeit aus. Mit fast schon blindem Eifer richtet die Regierung ihr politisches Handeln an epidemiologischen Kennzahlen aus. Liegt die R-Zahl unter eins, stehen die Zeichen auf Lockerung. Liegt sie über eins, geht die Tendenz zum Lockdown. Regieren nach Zahlen.

Welcher Wert ist maßgeblich?

Dabei sind die epidemiologischen Modelle, auf denen die Handlungsempfehlungen der Wissenschaft beruhen, durchaus anfechtbar. Wegen der unterschiedlichen Berechnungsweisen gab es mehrfach Verwirrung um den R-Wert, von dem es nun zwei gibt. Doch welcher ist maßgeblich? Und bilden die Werte das Infektionsgeschehen korrekt ab?

Die Diskussion wird weitestgehend in der scientific community geführt, einem elitären Zirkel von Wissenschaftlern, wo Einwände nur aus berufenem Munde zulässig sind. Kritik erschöpft sich in Methodenkritik. Dieser dünkelhafte Szientismus führt nicht zu einer höheren Legitimation oder besseren Qualität von Politik. Im Gegenteil: Er senkt die Legitimation, weil er die Hürden für die Beteiligung erhöht.

Die Kritik an technokratischen Steuerungsformen ist nicht neu. Der Soziologe Helmut Schelsky geißelte in seinem Aufsatz „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“ (1961) die „Verwissenschaftlichung“ und „Technisierung“ des Gemeinwesens: „Es wird in diesen Fällen deutlich, dass heute oft nicht mehr die Politiker das Allgemeininteresse vertreten, sondern gerade die Fachleute des wissenschaftlich-technischen Staates.“

In ähnlicher Stoßrichtung schrieb Jürgen Habermas in seinem Buch „Technik und Wissenschaft als „Ideologie““ (1968): „Die heute herrschende Ersatzprogrammatik bezieht sich hingegen nur noch auf das Funktionieren eines Systems. Sie schaltet praktische Fragen aus und damit die Diskussion über die Annahme von Standards, die allein der demokratischen Willensbildung zugänglich wären. Die Lösung technischer Aufgaben ist auf öffentliche Diskussionen nicht angewiesen.“

Technokratie und Populismus

Man braucht sich nicht zu wundern, wenn Verschwörungstheoretiker vom rechten Rand nun gegen eine vermeintliche „Gesundheitsdiktatur“ wettern und sich als Hüter der Verfassung gerieren. Auch in der Eurokrise hieß es, die Griechenland-Hilfen seien „alternativlos“. Dass dieses Rubrum heute im Parteinamen einer in Teilen rechtsextremen Partei firmiert, macht deutlich, wie das Abwürgen von Debatten zu einer Debattenunkultur verkommen kann.

Der Politologe Anders Esmark hat in seinem gerade erschienenen Buch „The New Technocracy“ auf den Zusammenhang von Technokratie und Populismus hingewiesen und dargelegt, wie eine Depolitisierung zu einer Repolitisierung an den Rändern führt.

Politik braucht die Wissenschaft. Aber Politik ist selbst keine Wissenschaft, die nach Lehrbuch funktioniert

Es scheint, als würden Regierungen in Zeiten von Fake News umso mehr auf wissenschaftliche Expertise rekurrieren, um ihre Politik zu beglaubigen, was jedoch genau das Gegenteil bewirkt, weil Politik mit dem Prüfsiegel der Wissenschaft zum einen den Eindruck erweckt, als sei sie nur mit wissenschaftlichen Methoden falsifizierbar, zum anderen weil die Erkenntnisse ja auch auf irgendwelchen Annahmen oder Weltbildern fußen, die als Interessen ungefiltert in das politische System einsickern.

Natürlich sollte man aus diesen Überlegungen nicht den falschen Schluss ziehen, dass Politik wissenschafts- oder gar faktenfrei sein sollte. Die Wahlkampflüge „350 Millionen pro Woche für den NHS“, die der heutige britische Premierminister Boris Johnson in der Brexit-Kampagne auf seinen Bus pinseln ließ, hat auf der Insel einen nachhaltigen Flurschaden hinterlassen. Auf der anderen Seite dürfen Zahlen und Modelle aber kein Ersatz für politische Argumente sein.

Es braucht gerade in der Krise das Politische, den offenen Streit, der über methodische Fragen hinausgeht; die Freiheit, jenseits wissenschaftlicher Plausibilitäten Ideen zu entwickeln. Erstaunlicherweise erleben wir bei der Diskussion über die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Fußball-Bundesliga – also dort, wo es kaum belastbare Zahlengibt – die Repolitisierung eines gesellschaftlichen Subsystems. Ist man bereit, mit der Durchführung von Massentests eine Berufsgruppe zu privilegieren, die mit Spitzengehältern und medizinischer Rundumbetreuung ohnehin schon Sonderrechte genießt? Das ist keine epidemiologische, sondern eine politische Frage. Und sie zeigt auch, dass allein mit mathematischen Formeln kein Staat zu machen ist. Politik braucht die Wissenschaft. Aber Politik ist selbst keine Wissenschaft, die nach Lehrbuch funktioniert.

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7 Kommentare

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  • Auweia! Jetzt habe ich mich über diesen Kommentar doch tatsächlich so aufgeregt, dass ich mir ein Konto zum Kommentieren angelegt habe ...

    Was mir völlig fehlt: Das Fehlverhalten von Politikern, die mit dem Finger auf Wissenschaftler zeigen, um nicht die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen zu müssen.

    Die Wissenschaft entwirft hier doch nur Szenarien, was mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren könnte, wenn die Politik diese oder jene Entscheidung trifft — aber die Entscheidung treffen noch immer die gewählten (!) Politiker.

    Konkret im Falle von Corona: Wenn zu sehr gelockert wird, könnte die 2. Welle sehr hart zuschlagen und zigtausende Tote fordern. Wenn nicht genug gelockert wird, könnte das die soziale Spaltung extrem verstärken und Millionen ärmere Deutsche dürften erhebliche Einbußen (u.a.) ihrer psychischen und körperlichen Gesundheit erfahren.

    In jedem Fall sollten die gewählten Politiker dann gefälligst die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen. Wenn z.B. die 2. Welle wirklich heftig kommt, müsste Armin Laschet sein Totalversagen eingestehen und zurücktreten.

    Im Augenblick kann man m.M.n. nur zwei Dinge klar sagen:

    1. Die Politiker, allen voran die Bundeskanzlerin, versagen sehr deutlich darin, zu erklären, wie sie wissenschaftliche Ratschläge und Szenarien in Politik umsetzen.

    2. Die Presse versagt darin, den Politikern diese Erklärungen zu entlocken und ihnen deutlich zu verstehen zu geben, dass man ihnen auf die Finger sieht und die Wählerschaft daran erinnern wird, sie für ihre Entscheidung zur Verantwortung zu ziehen.

  • Da sich die Grünen und Linken seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen von ihrer Oppositionsrolle verabschiedet haben, fehlte wochenlang eine wirkliche Opposition in der politischen Landschaft. Auch eine wirkliche kritische und kontroverse Diskussion der Wissenschaft konnte man in den Medien nicht wirklich erkennen. Jetzt versuchen FDP, AFD und sonstige Rechte das entstande Vakuum für sich zu nutzen.

  • Der Autor fürchtet, daß ‘das Politische’ verloren gehen könnte, daß ‘Wissenschaft’ (und Technokratie’) sich an dessen Stelle setzen. Ist das eine realistische Dystopie?

    Dem Einsatz des Autors für das Politische ist grundsätzlich zuzustimmen. Leider scheint an vielen Stellen des Textes eine Wissenschaftskritik durch, die mit Stereotypen arbeitet, die anschlußfähig sind sowohl an rechte Ressentiments als auch an identitätspolitische Dekonstruktionsversuche der neuzeitlichen Wissenschaften. Wir lesen: ‘elitäre Zirkel’, ‘berufener Mund’, ‘dünkelhafter Szientismus’. Dann hören wir, daß ”Erkenntnisse ja auch auf irgendwelchen Annahmen oder Weltbildern fußen, die als Interessen ungefiltert in das politische System einsickern.” Welche Annahmen und Weltbilder? Irgendwelche? Könnten es genausogut auch andere sein? Wessen Interessen? Einsickern? Der Autor bleibt im Ungefähren. Und die einen mögen assoziieren: die Elite, die anderen: europäische, weiße Männer, deren Interessen nun einsickern, ungefiltert.

    Sofern diese ‘Annahmen und Weltbilder’, auch wenn es sich nur um ‘irgendwelche’ handelt, einen Impfstoff hervorzubringen in der Lage sind – gerne, auch ungefiltert.

  • Zitat: „Die Lösung technischer Aufgaben ist auf öffentliche Diskussionen nicht angewiesen.“

    Genau das hat sich die taz auch lange gesagt, fürchte ich - und feste mit ins eintönige Horn getrötet. Erfreulich, immerhin, dass sie jetzt diesen Artikel gebracht hat.

    Dass Politik selber Wissenschaft wäre, ist übrigens auch in der DDR immer wieder behauptet worden. Mit exakt dieser Begründung brauchte es dort nach Ansicht der Regierenden nur eine einzige (Einheits-)Partei. Wo gesellschaftliche Entwicklungen gesetzmäßig ablaufen, ist Pluralismus nämlich ganz und gar unnötig. Da ist Interessenvertretung simpel: Man muss der Wissenschaft nur mit Macht zum Durchbruch verhelfen, schon ist allen gleichermaßen gedient.

  • "... die Freiheit, jenseits wissenschaftlicher Plausibilitäten Ideen zu entwickeln."

    Nicht jenseits, *innerhalb* des von den Wissenschaften aufgezeigten Handlungsspielraums! Da reden sich die Drostens dieses Landes den Mund fusselig, die Grenze zu ziehen zwischen Erklärung, und Verhersagemodellen auf der einen Seite und politischen Handlungsoptionen auf der anderen Seite.

    Es ist richtig, dass es eine Schwelle gibt, wenn man wissenschaftliche Aussagen anzweifeln will. Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn Leute diese Zahlen anzweifeln, die nicht verstehen was eine exponentielle Kurve ist, platt gesagt.

    Wer da nicht mitreden kann, soll bitteschön akzeptieren, was "die Wissenschaft" an Erklärungen und Prognosen bietet.

    Trotzdem kann und sollte man natürlich strategische Debatten führen, z.B.: "Wollen wir die Koexistenz mit dem Virus – oder es eindämmen, um dann wieder aufatmen zu können?"

    Siehe: www.deutschlandfun...:article_id=475166

    Nicht *ob* R entscheidend ist, steht zur Debatte, sondern *wie* wir gemessene R-Werte auf politische Entscheidungen abbilden. Unter der Maßgabe: bei R-Werten deutlich über 1 nichts zu tun, wäre gefährlicher Quatsch, unabhängig von der politischen Perspektive.

    Positives Beispiel aus meiner Sicht: das berliner "Ampelmodell". Man greift Modelle und Zahlen auf, justiert in politischer "Willkür" - im besten Sinne des Wortes - die Schwellwerte und behält immer noch die Freiheit, im Moment zu entscheiden, *welche* Maßnahmen bei gelben / roten Ampeln ergriffen werden. Das ist doch gelebter politischer Handlungsspielraum *mit* nicht *gegen* die Zahlen.

  • Sehr richtig. Politik überhaupt und politische Entscheidungen im Speziellen dürfen nicht ausschließlich auf technokratischen Empfehlungen von Experten fußen, sondern müssen sich dem breiten Diskurs und auch den zahlreichen unterschiedlichen Interessen stellen. Das gilt für die zu treffenden Entscheidungen in der Pandemiezeit ebenso wie für die Forderungen von FFF. Also Greta- nicht Gehör für die Wissenschaftler fordern, sondern sich dem Diskurs stellen.

  • Eieiei. Das ist ein kruder Eintopf.

    Natürlich ist Wissenschaft nicht Politik, und Politik keine Wissenschaft. Trotzdem: will mensch wissenschaftliche Aussagen kritisch prüfen, dann muss halt ein wenig Arbeit reingesteckt werden.

    "...sind die epidemiologischen Modelle, auf denen die Handlungsempfehlungen der Wissenschaft beruhen, durchaus anfechtbar"

    ...das ist schon gefährlich nahe an der Argumentation der Wirklichkeitsleugner.

    Nein, wir müssen es aushalten, dass die WissenschaftlerInnen nicht alles wissen. Wir müssen es aber auch aushalten, dass sie über mRNA, Modellierung von Epidemien und Tröpfchenausbreitung mehr wissen -- und dass wir uns auf die Zehenspitzen stellen müssen, um da mitzureden (das geht: noch nie war Wissen so leicht zugänglich wie heute!).

    "Die Diskussion wird weitestgehend in der scientific community geführt, einem elitären Zirkel von Wissenschaftlern, wo Einwände nur aus berufenem Munde zulässig sind"

    Elitär nur für die, die zu faul sind, sich die Hände schmutzig zu machen. Ich erinnere an die Anti-Atombewegung, die eine Unmenge guter Expertise in Sachen alternativer Energiegewinnungen hervorgebracht hat.

    Ich würde sagen: umgekehrt. Es ist höchste Zeit, dass (richtig verstandene) Wissenschaft integraler Bestandteil des politischen Entscheidungsprozesses wird. Ersetzen kann es sie natürlich nicht. Auf die Frage, ob wir 8000 oder 32000 Tote in Kauf nehmen wollen kann sie nämlich keine Antwort liefern.

    Noch was:

    "Auch in der Eurokrise hieß es, die Griechenland-Hilfen seien 'alternativlos'"

    Gehen Sie mir weg. Wirtschafts'wissenschaftler' sind keine Wissenschaftler.