Menschen mit Behinderung in Coronakrise: Die Verletzlichen
Anette Winkler sitzt im Rollstuhl und hat sich eine eigene Wohnung erkämpft. Die Coronakrise wirft sie zurück – so wie viele Menschen mit Behinderung.
E igentlich wollte Anette Winkler im August ein Jubiläum feiern. Es wäre ihr zehnjähriges geworden, im Sommer 2010 ist sie in ihre erste eigene Wohnung gezogen. Damit hatte sie sich einen Traum erfüllt: ein selbstbestimmtes Leben.
Mitten in Leipzig, nur wenige Minuten von der Innenstadt entfernt liegt die Wohnanlage, in der Winkler lebt. Ein kleiner, ordentlich gepflegter Park, umsäumt von Neubauten mit großen Balkonen, bildet eine Idylle inmitten städtischer Geschäftigkeit.
Anette Winkler wohnt im ersten Stock, ein Aufzug bringt sie zu ihrer Zweizimmerwohnung, in der sie an diesem sonnigen Morgen gerade frühstückt. Über den Fernseher läuft im Radio ein Oldie, orangefarbene Vorhänge säumen die große Fensterfront hin zum Ostbalkon, auf dem sie morgens gerne die Sonne genießt. Auf dem Esstisch steht eine gelbe Vase mit bunten Blumen, Ostereier und ein Stapel DVDs, im Schrank Fotos von ihrer Familie.
Es ist ein gemütliches Zuhause, mit vielen kleinen Details. Die Wohnung ist behindertengerecht gebaut: Ein großes, ebenerdiges Bad, eine helle Wohnküche, durch die sie sich problemlos mit ihrem elektrischen Rollstuhl bewegen kann, ein Schlafzimmer mit einem Bett, auf dem sorgfältig ihre liebsten Kuscheltiere arrangiert sind: ein Reh, ein Eule, ein Hase, ein Esel. Das Erdmännchen sei das neueste und das mit dem weichsten Fell, sagt Winkler. Sie mag Tiere, geht gerne in den nahe gelegenen Zoo.
Kontakte auf ein Minimum eingeschränkt
Die letzten Wochen ging das nicht, denn da war der Zoo geschlossen. Auch sonst sind nur noch wenige Aktivitäten möglich Zu groß ist das Risiko, dass sie sich mit dem Coronavirus anstecken könnte. Denn die 53-Jährige sitzt im Rollstuhl, weil sie eine spastische Lähmung hat. Von Geburt an war ihr Gehirn geschädigt, weshalb ihre Muskulatur stets unter Spannung steht und immer wieder krampft. Anette Winkler ist Teil derjenigen, die Risikogruppe genannt werden.
Für Winkler bedeutet das: Keine Freund:innen mehr treffen, nicht mehr in die Behindertenwerkstatt gehen, viel zu Hause zu sein. Und ein Stück ihrer Autonomie aufgeben zu müssen. Denn Winkler hat sich trotz ihrer Behinderung ein Leben aufgebaut, in dem sie eigene Entscheidungen trifft: Wann sie aufstehen will, ob sie zum See oder in den Park gehen will, was sie zum Abendbrot isst.
Das war nicht immer so. Vor ihrem Umzug in ihre Wohnung hat Winkler in einem Wohnheim gelebt, in dem der Tagesrhythmus fest vorgegeben war: Punkt 18 Uhr war Abendessen angesagt, der Tagesablauf strikt. Und jetzt? Winkler schmunzelt. Jetzt überlege sie eben spontan, was sie einkaufen und essen will. Für viele Menschen Normalität, für Winkler ein wichtiger Schritt in Richtung eines selbstbestimmten Lebens.
Winkler, im roten Pulli, mit Kurzhaarschnit und kleinen silbernen Creolen, ist eine Frohnatur, lacht viel und erzählt gerne von ihren Erlebnissen. Einmal im Jahr setzt sie sich an ihren Computer und schreibt einen Rundbrief. Erst kürzlich hat sie einen neuen PC gekauft, mithilfe einer speziellen Vorrichtung wählt sie jeden Buchstaben, den sie schreiben will, einzeln aus.
In diesem Jahr erzählt sie in ihrem Rundbrief von Kinobesuchen, von ihrer Liebe zu E-Books und Hörbüchern, am liebsten liest sie Krimis. Sie berichtet von ihrer Arbeit in der Behindertenwerkstatt, wo sie Grußkarten gestaltet. Von ihren Ausflügen nach Dortmund, an den Rhein, ins Schwimmbad, zum Orgelkonzert in der Martin-Luther-Kirche. Und von ihrem Highlight 2019: Einer Kreuzfahrt mit ihren Eltern durch die Fjorde Norwegens.
Als Anette Winkler vor elf Jahren den Antrag auf eine eigene Wohnung stellte, waren die Hürden groß. Das erste Begehren wurde abgelehnt, dagegen erhob sie Widerspruch. Auf einer Konferenz musste sie sich verteidigen, warum sie alleine leben will, und die Kosten für einen Pflege- und Assistenzdienst rechtfertigen, der sie rund um die Uhr unterstützt.
Winkler will nicht, dass die Assistent:innen nun permanent Mundschutz und Handschuhe tragen. „Sonst fühle ich mich ja wie im Gefängnis.“ Luisa Mundt ist eine dieser Assistent:innen in Winklers Team. Sie findet es absurd, dass Menschen überhaupt erklären müssen, warum sie selbstbestimmt leben möchten.
Nach dem Frühstück unterhalten sich die beiden auf dem Balkon. Über die Ameisen, die von den Pflanzen angelockt über das Beton krabbeln, über den heutigen Tagesplan. Und über Corona. „Was passiert denn, wenn eine von euch krank wird?“, fragt Winkler. Sie wissen es nicht. Bislang gibt es keinen Plan des Betreuungsdienstes, keine Absprachen über mögliche Krankheitsfälle. Winkler sagt, sie habe eigentlich keine Angst vor dem Virus. „Vielleicht kann ich mich ja durchmogeln.“ Sie lacht. Wovor sie aber Angst habe sei, ins Krankenhaus zu kommen. Denn es gibt keine speziellen Stationen für Menschen mit Behinderung, keine Pläne für die benötigte Pflege.
Die Sorge um eine ausreichende medizinische Versorgung war zu Beginn der Pandemie am größten. Überlastete Intensivstationen in Italien, Lieferengpässe bei Schutzmasken und Desinfektionsmitteln und zu wenige Beatmungsgeräte prägten ein Bild des Mangels und des Schreckens. Im schlimmsten Fall – so der Kanon – könnte es passieren, dass es zu wenig Betten und Beatmungsgeräte gibt. Und dass Ärzt:innen anhand der sogenannten Triage über Leben und Tod entscheiden müssen.
Die Furcht vor dem Aussortieren
Das Konzept der Triage, französisch für Auswahl oder Sichtung, beschreibt die Einteilung von Patient:innen nach der Schwere ihrer Verletzungen. Doch was in der Notfallambulanz zur Praxis gehört, wird in der Coronakrise schnell zum ethischen Dilemma: Was tun, wenn das Virus sich so weit verbreitet, dass es mehr Erkrankte, die eine intensive Behandlung im Krankenhaus benötigen gibt, als Kapazitäten? Wer entscheidet dann über Leben und Tod?
Um das medizinische Personal in diesem ethischen Dilemma nicht die alleinige Verantwortung zu überlassen, hat eine Kommission Ende März ein Papier mit Handlungsempfehlungen herausgebracht. Die Leitlinie erläutert Grundsätze der Entscheidungsfindung und bestimmt Kriterien für Priorisierungsentscheidungen.
Unter den Kriterien sind neben klinischem Zustand und Patientenwillen auch Faktoren wie Begleiterkrankungen, Erfassung des Allgemeinzustands und andere medizinische Skalen. Auf dreizehn Seiten wird so bestimmt, wer im Zweifel beatmet werden soll. Quintessenz: Wer bereits Vorerkrankungen hat, hat schlechtere Chancen auf ein Beatmungsgerät.
Raul Krauthausen kritisiert diese Handlungsempfehlungen. „Auf diese Art zwischen gesund und krank zu unterscheiden ist hochproblematisch und erinnert an eine Zeit, die wir glaubten, hinter uns gelassen zu haben“, sagt der 39-jährige Aktivist, der sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt und selbst im Rollstuhl sitzt. 2004 gründete er den Verein Sozialhelden, der zum Ziel hat, dafür zu sensibilisieren, dass Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe wahrgenommen und mitgedacht werden.
„Wenn ein Arzt vor der Wahl steht, das Beatmungsgerät einer Person mit oder ohne Behinderung zu geben, dann ist die Gefahr, groß, dass die Behinderten den Kürzeren ziehen“, sagt Krauthausen. Er kritisiert, dass die ethisch-medizinische Handlungsempfehlung ohne Interessenvertreter:innen von Menschen mit Behinderungen erarbeitet worden ist.
Am schlimmsten trifft es in der Coronakrise jene, die in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung wohnen. Krauthausen sagt, dass die Angst und Unsicherheit bei Menschen, die in diesen Einrichtungen leben, besonders groß sei. Zum einen, weil die Ansteckungsgefahr aufgrund der hohen Konzentration an Menschen auf engem Raum sehr hoch ist, zum anderen, weil es auch hier an Schutzkleidung und Ausstattung fehlt.
Alle Therapien gestrichen
Erschwert ist aber auch die Versorgung für Menschen in ländlichen Gebieten. So wie für die Tochter von Daniela Finke. Die 29-Jährige lebt in einem kleinen Dorf an der Nordsee in einem freistehenden Haus, umgeben nur von Wald, Meer und Tieren, mit ihrem Mann und den drei Kindern. Ihr fünfjährige Tochter hat eine Behinderung: Der untere Gehirnteil ist falsch angelegt, Arnold-Chiari-Malformation nennt man das.
Am Telefon erzählt Daniela Finke von der Überbelastung, gegen die sie seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen tagtäglich ankämpft. Für ein Videointerview ist das Internet in dem abgelegenen Ort nicht stabil genug, die Arbeit ihres Mannes im Homeoffice belastet die Leitung schon stark genug.
Die Coronakrise zeige, wie schlecht die Versorgung für Menschen mit Behinderung ohnehin schon sei. „In der Krisensituation funktioniert gar nichts“, sagt Finke. Aus der Erkrankung ihrer Tochter heraus ergeben sich viele Defizite: kein Gleichgewichtssinn, Verständnisprobleme, verzögerte Entwicklung. Kaum ein:e Ärzt:in auf dem Land kann sie behandeln. Will Finke sie ganzheitlich untersuchen lassen, muss sie in das eineinhalb Stunden entfernte Hamburg fahren. In Zeiten von Corona ein gewisses Risiko.
Finke ist eine fröhliche, hoffnungsvolle Frau, spricht ruhig und sachlich, versucht, Fassung zu wahren. Sie werde überrollt von dem Chaos, das ihren Alltag seit dem Ausbruch der Krise und den damit einhergehenden Beschränkungen bestimmt. Seit dem 16. März ist sie ohne jegliche Hilfe für ihre Tochter. Alle drei Therapieeinheiten – Physiotherapie, Ergotherapie, Heilpädagogik – sind gestrichen. Zu Hause unterstützen dürfen weder die Therapeut:innen noch die Assistentin oder eine Haushaltshilfe. Zu groß sei die Gefahr der Ansteckung, sagen die Therapeut:innen.
Finke sagt, die Rückschritte durch die fehlenden Therapien ihrer Tochter seien enorm. Und, dass sie sowohl die Frühförderung als auch die Assistenz zu Hause dringend benötigt. „Ich kann keine vier Therapeuten und eine Assistentin ersetzen“, sagt sie. „Das fängt beim Frühstück schon an: Wenn meine Tochter den Mund zu voll nimmt, könnte sie ersticken.“ Ständig muss sie aufpassen, dass ihrer Tochter nichts passiert.
Hinzu kommt der Bedarf einer intensiven sprachlichen Begleitung – und zwei weitere Kinder. „Schwierig ist es vor allem, wenn das kleine Baby schlafen soll und das Mädchen die ganze Zeit herumrennt.“ Finke schmunzelt hörbar, ihre Tochter lacht im Hintergrund.
Die junge Mutter bleibt hoffnungsvoll. Auf Instagram postet sie Fotos von sich und ihren Kindern. Am Meer, im Wald, auf dem Deich. Sie beschreibt die Schwierigkeit für das Leben mit Behinderung während Corona, stets begleitet von optimistischen Kommentaren: „Ab und an kommen wir an unsere Grenzen, aber wir haben das berühmte Atmen und bis zehn zählen noch nicht verlernt.“
Das Problem sieht sie vor allem darin, dass Menschen mit Behinderung politisch kein Gehör bekommen. Weder von der Krankenkasse noch vom Sozialamt oder der Eingliederungshilfe habe sie seit Mitte März irgend etwas in Aussicht gestellt bekommen. Finke weiß, dass sie ihre Tochter schützen muss. Und doch würde sie sich wünschen, dass wenigstens die Heilpädagog:innen nach Hause kommen und ihre Tochter mit Abstand therapieren dürften. Oder dass sie ihr wenigstens Tipps geben. Sie seufzt. „Damit wenigstens die Förderung weitergeht.“
Bei Lockerungen lieber zu Hause bleiben
Aktivist Raul Krauthausen befürchtet, dass die nun einsetzenden Lockerungen dazu führen, dass die gefährdeten Gruppen eher zu Hause bleiben als die fitten Personen. Er beobachtet in der Debatte um die Risikogruppe eine zunehmende Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung. Es finde ein Umdeutung statt, in dem Menschen mit Behinderung zum Problem – zum Risiko – gemacht werden. Die Behindertenbewegung spreche deshalb von „vulnerablen Gruppen“ statt von Risikogruppen.
Krauthausen warnt vor Paternalismus in der Debatte: „Die Menschen aus der vulnerablen Gruppe wissen sehr genau, was für sie gefährlich ist und was nicht, sie brauchen keine extra Anweisungen“, sagt er. „Wenn, dann gehen wir alle gemeinsam raus.“ Er hofft darauf, dass Sondereinrichtungen wie Behindertenheime zukünftig systematisch hinterfragt und Alternativen für Menschen mit Behinderung geschaffen werden. Und dass finanzielle Mittel für Menschen mit Behinderung und deren Familie, wie die von Daniela Finke, bereitgestellt werden.
Die Tochter von Finke darf seit Mitte März endlich wieder für einige Stunden in den Kindergarten – mit Assistenz. Optimal sei das nicht, sagt sie. „Aber es gibt ihr immerhin ein kleines Stückchen Förderung zurück.“
Anette Winkler hat sich heute dazu entschieden, mit ihrer Assistentin einen Spaziergang im nahe gelegenen Park zu machen. Die Sonne scheint, in der Ferne sieht man ein paar Tiere im Zoo in der Nähe. Für Winkler ist es eine wichtige Freiheit, nicht mehr in einem Wohnheim zu leben. Vor allem in der Coronakrise ist sie dankbar über ihre Selbstbestimmtheit, auch wenn sie sich einschränken muss. Sie hofft, dass bald alles vorbei ist, sie ihr Jubiläum vielleicht doch noch feiern kann.
Für ihren Osterrundbrief hat sie in diesem Jahr ein kleines Gedicht herausgesucht:
Ich wünsche Dir
den Hunger nach dem Schönen,
dem Schönen der Natur,
dem Schönen im Herzen des Menschen.
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