Corona in brasilianischer Favela: Die Frauen im Paradies
Den Menschen in der Armensiedlung Paraisópolis im brasilianischen São Paulo fehlt medizinische Versorgung und Wasser. Eine Frauengruppe hilft.
N ervös läuft Juliana da Costa Gomes durch die improvisierte Küche. „Es fehlen noch 50, dann kann die nächste Ladung raus“, ruft sie einer Gruppe Frauen zu, die Reis, Bohnen und Gemüse aus gigantischen Töpfen in runde Alubehälter füllen. „Ich mache das seit 20 Tagen ohne Pause, ich bin völlig fertig“, stöhnt Gomes unter ihrer Schutzmaske hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Aber hier sind Menschen bereits am Hungern.“ Gomes, 34, geglättete Haare, zupackende Art, ist in der Favela Paraisópolis im Süden von São Paulo geboren. Seit sie 14 ist, engagiert sie sich für ihren Stadtteil. Als die Coronakrise in Brasilien begann, trommelte sie eine Gruppe von Frauen zusammen und baute in einem Sozialzentrum eine provisorische Großküche auf. Denn wie vielen Favelas in Brasilien droht Paraisópolis eine Katastrophe.
Die „Stadt des Paradieses“ ist die zweitgrößte Favela São Paulos. Mindestens 100.000 Menschen wohnen hier, aber so genau weiß das niemand. Umrundet wird das gigantische Viertel von den wohlhabendsten Stadtteilen der 12-MillionenMetropole. Hinter dem Dickicht aus roten Backsteinhäusern ragen die luxuriösen Wohntürme des Morumbiviertels wie Bäume empor. Auf dem Weg nach Paraisópolis kommt man an schwer bewachten Villen, exklusiven Klubs und Schaufenstern mit teuren Sportwagen vorbei. Ältere Damen mit operierten Gesichtern führen gestriegelte Hündchen Gassi, weiße Pärchen in modischer Sportkleidung walken auf dem breiten Bürgersteig. Trotz der räumlichen Nähe liegen Welten zwischen Morumbi und Paraisópolis.
Ende Februar wurde in Morumbi der erste Coronafall in ganz Lateinamerika gemeldet. Das Virus kam wahrscheinlich durch gut situierte Europaurlauber*innen ins Land. Längst hat es sich aber außerhalb der Luxuswelt der Reichen und Schönen ausgebreitet. Auch in Paraisópolis gibt es zahlreiche Fälle. Favelas sind besonders anfällig für das Virus. Der Anteil der Tuberkulose- oder Asthmakranken ist fünfmal höher als in den wohlhabenden Vierteln. Wegen schlechter Ernährung gibt es viele Diabetiker*innen. Und Geld für Prävention hat kaum einer. „Bevor sich die Menschen hier über Schutzmasken und Desinfektionsmittel Gedanken machen können, brauchen sie etwas zu essen“, sagt Gomes während einer kurzen Verschnaufpause. Sie selbst habe es noch relativ gut, lebt mit ihren drei Kindern in einem geräumigen Haus, hat fließendes Wasser und ein bescheidenes Einkommen. Bei vielen Nachbar*innen sieht das anders aus.
Vor einigen Jahren gründete Gomes mit einer Freundin die Frauengruppe „Hände von Maria“, halb Cateringservice und halb Sozialprojekt. Bald kam ein eigenes Restaurant hinzu, in dem sie Bewohnerinnen in der Küche ausbildeten. Die Idee: Frauen der Favela finanziell unabhängig machen. Mit Beginn der Coronakrise stand plötzlich alles still – vorerst zumindest. Nun liefert die Gruppe Essen an die Menschen aus, die es am Nötigsten haben. Das Projekt wird durch Spenden finanziert, Unterstützung bekommen sie von Restaurants aus der Nachbarschaft, Freiwillige von außerhalb packen mit an. Jeden Tag werden rund 1.400 Mittagessen verteilt.
Schutzmaske trägt hier niemand
„So, wir können los“, ruft Gomes, schnappt sich eine Kiste und schleppt sie zu einem Van, in dem sich bereits die Alubehälter bis zur Decke stapeln. Als die letzte Kiste verstaut ist, düst das Fahrzeug ins Innere des Backsteinlabyrinths los. Die asphaltierten engen Straßen schlängeln sich kreuz und quer durch die Favela – an manchen Stellen schwindelerregend steil. Die Straßen sind voll mit Menschen, fast alle Geschäfte haben geöffnet. Motorräder knattern durch die Gassen, Kinder toben draußen herum, an einer Straßenecke schrauben ein paar Männer an einem Auto. Eine Schutzmaske trägt niemand.
An einer steilen Kreuzung kommt der Van zum Stehen. Eine Gruppe Frauen nimmt einen Teil des Essens entgegen, der Transporter rast weiter. Als die Krise einsetzte, erzählt Gomes, habe man sich Gedanken über das Krisenmanagement in der Favela gemacht. Ein cleverer Plan entstand: 420 ausgewählte Personen kümmern sich jeweils um 50 Häuser in ihrer Nachbarschaft. Die „Präsident*innen der Straße“ verteilen das Essen, schicken Bewohner*innen nach Hause, klären über Corona auf und rufen im Notfall den Krankenwagen. Die Favela hat in Extremsituationen schon immer ihre eigenen Wege gefunden.
Denn der Staat ist in armen Gebieten wie Paraisópolis kaum präsent. Inoffiziell kontrolliert das Erste Hauptstadtkommando (PCC) den Stadtteil. Doch über das mächtige Drogenkartell will hier niemand sprechen. Auch in Paraisópolis herrscht ein Gesetz des Schweigens. Wenn der Staat sich doch mal blicken lässt, dann meist mit der vollen Härte des Gesetzes. Anfang Dezember löste die Polizei gewaltsam eine Baile-Funk-Party auf. Am Ende des Abends waren neun junge Menschen tot, wahrscheinlich in der Panik zerquetscht. Der Fall löste landesweite Proteste aus. Bewohner*innen des Viertels sprachen von einem „Massaker“ und einem „geplanten Racheakt“ der Polizei. Wegen Corona droht dem Viertel nun die nächste Tragödie.
Doch Favela ist nicht gleich Favela: Auch in Paraisópolis gibt es soziale Unterschiede, und einige Bewohner*innen sind besonders anfällig für das Virus. Es sind Menschen, die im unteren Teil der Favela leben. Dort, wo ein übelriechender Fluss an knochigen Holzhütten und verdreckten Gassen vorbeifließt. „Hier teilen wir das Essen direkt an die Menschen aus“, erklärt Gomes. Als der Van um die Ecke biegt, hat sich bereits eine lange Schlange vor einem Hauseingang gebildet. Freiwillige mit Masken und Handschuhen warten dort, um das Essen entgegenzunehmen.
Sieben Personen auf engstem Raum
In der Schlange steht eine kleine, etwas schüchtern wirkende Frau mit Blümchenkleid und krausen, zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren. Carla Borges de Brito ist 29 und lebt seit acht Monaten in Paraisópolis. Wie viele ihrer Nachbar*innen stammt sie eigentlich aus einem anderen Bundesstaat und kam in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Wirtschaftsmetropole São Paulo. Anfangs lief es auch gut. Sie fand einen Job als Putzkraft, ihr Mann arbeitete schwarz als Maler. Doch dann kam Corona.
„Hier müssen wir rein“, sagt Brito und biegt mit sieben Lunchboxen unter dem Arm in eine dunkle feuchte Gasse ab. Vor einem kleinen Haus, vielleicht 30 Quadratmeter, bleibt sie stehen. Mit ihrem Mann und fünf Kindern lebt sie hier in zwei kleinen Zimmern. Ihr jüngstes Kind wurde vor nicht einmal einem Monat geboren.
Wie so viele Frauen in der Favela arbeitete Brito als Hausangestellte in einem wohlhabenden Viertel. Als Corona sich auch in Brasilien ausbreitete, wurde sie entlassen. Von einem auf den anderen Tag brach ihr Einkommen weg. Wie die meisten hatte Brito keinen Arbeitsvertrag. Ersparnisse hat sie nicht. Und Homeoffice kennt sie nur aus dem Fernsehen. „Ohne das hier“, sagt Brito und klopft auf die Alubehälter mit Reis und Bohnen, „könnte ich meine Familie nicht ernähren.“ Während Brito spricht, toben ihre Kinder durch das dunkle, spärlich eingerichtete Zimmer mit den knalltürkisen Wänden. Die Familie lebt dicht aufeinandergedrängt, das Nachbarhaus grenzt direkt an. Soziale Isolierung ist für die meisten Favela-Bewohner*innen schlichtweg unmöglich.
Und auch die Wasserversorgung bereitet vielen hier Sorgen. Zwar stellten Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung mit Beginn der Coronakrise Wassertanks auf 900 Dächer. Doch in vielen Häusern bleibt der Hahn abends weiterhin trocken. So auch bei der fünffachen Mutter Brito, die durch Diabetes und Bluthochdruck auch noch zur Risikogruppe zählt. „Wie sollen wir uns die Hände waschen und vor Corona schützen, wenn wir noch nicht einmal fließendes Wasser haben?“
Vielleicht 200 Euro vom Staat
Es wird viel darüber geredet, dass Banker und Bauarbeiter gleichermaßen von Corona betroffen sind. Doch die Situation in den Favelas zeigt: Es gibt zwei Brasilien. Ein Brasilien der vollen Kühlschränke, gut bewachten Wohnanlagen und Yoga-Sessions vor teuren Laptops. Und ein anderes Brasilien der leeren Mägen, dunklen Hütten und vergammelten Matratzen.
Auf Druck der linken Opposition hat der Kongress mittlerweile eine finanzielle Direkthilfe für informell Beschäftigte bewilligt. Brito hat sich beworben, aber noch keine Antwort erhalten. Etwas mehr als umgerechnet 200 Euro würde die Familie erhalten. Das ist nicht viel, aber damit könnten sie zumindest ihre Miete zahlen. „Ohne das Geld landen wir auf der Straße oder in einer Obdachlosenunterkunft.“
Für die arme, meist schwarze Bevölkerung ist das Virus ein Dilemma: Die, die noch können, arbeiten entweder weiter und gehen das Risiko einer Infektion ein. Oder sie bleiben ohne Einkommen zu Hause. Viele nehmen das Risiko in Kauf. „Hast du gesehen, wie voll die Straßen heute waren?“, fragt Gilson Rodrigues. „Das wird nicht gut ausgehen.“ Rodrigues, 35, legeres Hemd, Lockenkopf, ist Präsident der Bewohnervereinigung und so etwas wie das Gesicht der Megafavela. Als Corona sich ausbreitete, fuhr Rodrigues mit einem Lautsprecherwagen durch Paraisópolis. „Bleibt zu Hause!“, schallte es durch die engen Gassen.
Am Anfang, erzählt er, hätten viele gedacht, Corona sei nur ein Problem der Reichen. Nach zahlreichen Fahrten durch die Favela, persönlichen Gesprächen und Kampagnen in sozialen Netzwerken hätten die meisten aber die Gefahr erkannt. Geschäfte machten vorübergehend dicht, viele Menschen blieben der Straße fern. „Es hat gut geklappt … na ja … bis zur der Ansprache.“ Mit „der Ansprache“ bezieht sich Rodrigues auf den 24. März. Vor den allabendlichen Fernsehnachrichten wandte sich Jair Bolsonaro mit einer Rede an die brasilianische Nation.
„Bolsonaro hat Mitschuld an jedem einzelnen Toten“
Der rechtsradikale Präsident polterte gegen politische Gegner und beschimpfte in seiner cholerischen Art die Medien. Doch vor allem bezeichnete er Corona als „kleine Grippe“ und forderte eine Rückkehr zur Normalität. „Als ich die Rede hörte, musste ich weinen“, sagt Rodrigues. „Denn ich wusste, was das für uns bedeutet.“ Am Tag nach der skurrilen Ansprache waren die Straßen von Paraisópolis wieder voll mit Menschen. Der Favela-Aktivist meint: „Bolsonaro hat Mitschuld an jedem einzelnen Toten.“
Und die Katastrophe nimmt weiter seinen Lauf. Laut Schätzungen leben rund 13,4 Millionen Menschen in Brasilien in Favelas. Aus mehreren wurden Todesfälle gemeldet. Auch in Paraisópolis gibt es bereits mindestens acht Coronatote. Doch Regierungsvertreter*innen nehmen bei ihren täglichen Reden über die Pandemie weiterhin das Wort „Favela“ nicht in den Mund. Mittlerweile gibt es zwar einzelne Sozialprogramme. Doch Rodrigues fordert eine spezifische Politik für die Favelas. „Es gibt Rettungsaktionen für Banken und Einkaufszentren. Warum dann nicht auch für uns?“
Favelabewohner*innen klagen seit jeher über Vernachlässigung vonseiten des Staats. Auch in Paraisópolis ist die mangelnde Gesundheitsversorgung schon lange ein Thema. Ein Krankenhaus gibt es nicht, in dem nächstgelegenen öffentlichen Krankenhaus warten Patient*innen auch schon einmal einen ganzen Tag auf eine Behandlung. Das beste Krankenhaus des Landes steht zwar in der Nachbarschaft, ist jedoch privat und für arme Brasilianer*innen unerschwinglich. Laut dem Präsidenten der Bewohnervereinigung komme noch nicht einmal der Krankenwagen in die Favela. „Aus Angst, aus Vorurteilen, ich weiß es nicht.“ Vertreter*innen der Landesregierung weisen diese Anschuldigung zurück. Die Vorwrfe, dass der Staat sich nicht kümmere, sei „eine große Übertreibung“, heißt es. Hilfe in der Coronakrise wird versprochen.
Doch allzu oft wurde die Favela in der Vergangenheit alleine gelassen. Deshalb hilft sie sich auch diesmal selbst. Rodrigues und seine Kolleg*innen der Bewohnervereinigung haben durch Spendeneinnahmen zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern engagiert sowie drei Krankenwägen gechartert. Rund um die Uhr können nun Kranke betreut und im Notfall schnell in nahegelegene Krankenhäuser gebracht werden. Sollte es ganz hart kommen, wird ein Feldkrankenhaus auf einem Fußballplatz eingerichtet. Verdachtsfälle können in zwei geschlossenen Schulen isoliert werden.
Die Geschichte von Paraisópolis ist auch die Geschichte von Selbstorganisierung und Zusammenhalt. Andere Favelas aus anderen Städten wollen nun das Modell aus São Paulo kopieren. Über eine eigene landesweite Organisation namens G10 sind sie miteinander vernetzt. Ihr Vorsitzender Rodrigues sagt: „Der Schmerz der Favelas von Rio de Janeiro ist auch unser Schmerz.“
Am Nachmittag erreicht der Essenstransporter die provisorische Großküche. Noch immer sind nicht alle Essenbehälter ausgeteilt. Es ist nach 16 Uhr. „Für viele Menschen ist es das erste Essen des Tages“, sagt Gomes. Darum steht sie auch morgen wieder in der Küche.
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