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Das Leben am FensterEine lange Weile

Für Deutsche scheint es schwer auszuhalten, einfach nur zu sein. Man muss sich beschäftigen. Dabei ist eine lange Weile oft besser als eine kurze.

Die Entdeckung der Langsamkeit Foto: Markus Schreiber/ap

E s sind langweilige Zeiten und ich sitze viel am Fenster. Wisst ihr noch, wie sich früher nur die Gaffer ans Fenster setzten, wie sie die Ellbogen auf einem Kissen ablegten und das Kinn in die Hände? Heute bin ich die Gafferin, gealtert durch 33 Tage am Fenster, weil ich genauer hingesehen habe, und je mehr man gesehen hat, desto älter ist man.

Die Kastanie hatte ganz kleine Triebe, jetzt stehlen mir ihre grünen Blätter die Sonne. Die Nachbarin hat einen sehr schlanken Hund, der sich täglich geduldig auf dem Balkon bürsten lässt und dabei zunehmend einem Pferd ähnelt. Eine Backsteinmauer, wie New York im Herbst, eine verkachelte Fassade, wie Shanghai im Sommer, eigentlich Berlin im Frühling. Einmal habe ich das Fenster geöffnet, um tief einzuatmen, und da roch es plötzlich nach China. Nur ganz selten passiert das, und Gerüche sind flüchtig, aber kurz riecht es dann nach Längen: Langsamkeit und Langeweile, langgezogene Zeiteinheiten. Warum stirbt man eigentlich vor Langeweile, anstatt in ihr zu leben?

Viele langweilige Stunden bei meiner Ayi in Shanghai. Tage, an denen die feuchte Hitze die Menschen in ihren Wohnungen einsperrt, mit Fächern aus getrockneten Gräsern, unter Ventilatoren, oder im unterkühlten Atem der Klimaanlage. Nichts zu machen, außer sitzen und gucken. Sitzen auf mit Bambusmatten belegten Ledersofas oder auf niedrigen Hockern beim Bohnenputzen. Gucken auf den Fernseher, oder auf Abu, wie sie zwischen Küche und Wintergarten auf- und abschlurft.

Auf Zehenspitzen wippen

Nichts tun, nur Sonnenblumenkerne knacken, so langweilig und so genug. Zur Abwechslung kann man es mit Wassermelonenkernen versuchen, aber die sind sehr hart. Oder: Hinaustreten auf pinken Plastiklatschen in den kleinen Wintergarten, die Hände hinter dem Po verschränken, auf Zehenspitzen wippen, hoch und runter, wie ein Rentner bei einem Spaziergang. Oder: die Schildkröten in ihren Porzellankrügen grüßen. Oder: das Huhn anstarren, das eine Zeit lang zwischen den Blumentöpfen lebte, um der schwangeren Cousine frische Eier zu legen, um nach neun Monaten zu einer nahrhaften Wochenbettsuppe verarbeitet zu werden. Währenddessen: auf nichts warten und nichts erwarten, außer die nächste Mahlzeit.

Heute sitze ich am Fenster und denke, dass eine lange Weile oft viel besser ist als eine kurze. Für Deutsche scheint es schwer auszuhalten, einfach nur zu sein. Deswegen muss man sich Aufträge geben, Projekte erfinden und dafür in langen Schlangen vor Baumärkten anstehen. Oder: 30 days of yoga.

Der Nachbarshund wird zum Pferd und ich versuche mich in meine Mutter zu verwandeln, sie ist die Königin der Langeweile. Sie erfindet nichts, weil sie schon gefunden hat, was sie braucht – zum Beispiel dasitzen und Sonnenstrahlen in sich fließen lassen. Wenn wir telefonieren, frage ich immer, ob ihr langweilig ist, und sie sagt immer „wuliao“, langweilig, „aber wo xihuan wuliao, ich mag Langeweile“. Und dann lachen wir, jedes Mal.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
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