Auf kalten Mauern

Der Aktionskünstler Klaus-Dieter Gleitze klebt aus Protest gegen die Corona-Leere Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ an Hannovers Wände. Einige Exemplare sind in Eis eingefroren und tauen nun langsam auf

Hölderlin-Plakate auf Mauern, die „sprachlos und kalt“ anmuten: hier die Bauruine des Ihme-Zen­trums in Hannover Foto: Klaus-Dieter Gleitze

Von Jens Fischer

Stolzfrech erzählt Klaus-Dieter Gleitze, Chef des Hannoverschen Künstlernetzwerks „Schuppen 68“, in seinem Online-Tagebuch, gerade die erste Corona-Performance der Welt veranstaltet zu haben, inklusive Verlosung von Flaschen des gleichnamigen Bieres. Für einen Moment habe er auch erwogen, „den Hitlergruß als Seuchenprävention zu propagieren. Null Hautkontakt und idealer Abstandshalter, wenn sich zwei so begrüßen, weit über den empfohlenen einen Meter hinaus“.

Fraglos, Gleitze ist ein satirischer Rüttler an Humorgrenzen. Beruflich übrigens ganz seriös Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz Niedersachsen. Völlig ohne Ironie liebt er auch einen Autor der deutschen Verseschmiedezunft. Vor allem folgende Zeilen: „Mit gelben Birnen hänget / und voll mit wilden Rosen / das Land in den See, / ihr holden Schwäne, / und trunken von Küssen / tunkt ihr das Haupt / ins heilignüchterne Wasser. / Weh mir, wo nehm’ ich, wenn / es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein, / und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“

Was für ein zauberischer Nachtgesang über die Furcht vor dem künstlerischen Verstummen aufgrund wachsender Isolation, gern gelesen auch als pure Naturschilderung, die als jahreszeitliches Stimmungsgedicht funktioniert. Als „poetische Vision“ bezeichnet Gleitze den letzten Satz „angesichts von wachsendem Faschismus, Rechtsterrorismus und alltäglicher dialogferner Verrohung“.

Zweifellos lässt sich das Werk auch als lebensängstliches Befindlichkeits-Statement zum Bergfest des Erdendaseins verstehen. Ist es doch „Die Hälfte des Lebens“ betitelt, recht schlank gehalten, ohne arkadisches Raunen, antike Schlenker und mythologische Verweise, wofür der filigrane Wortsetzer Friedrich Hölderlin ansonsten bekannt ist.

In der Corona-Auszeit öffentlicher Kulturdarbietungen blieb seinem 250. Geburtstag am 20. März das große Feiern mit schönen Rezitationen versagt. In Hannover initiierte Gleitze mit dem Poem des halben Lebens aber eine kleine Intervention des städtischen Raumes plus Tape-Art- und Postkartenaktion. „Man kann ja nicht 24 Stunden am Tag hypnotisiert wie die Zelle vor dem Virus hocken und auf den Angriff warten“, so Gleitze in seinem Blog.

Also wurden ein gutes Dutzend Plakate mit dem Gedicht bedruckt und auf Mauern geklebt, die „sprachlos und kalt“ anmuten, wie es bei Hölderlin heißt. Beispielsweise hängen die finster schwärmenden Zeilen nun im urinösen Klima neben Bauzäunen an bröselndem Beton des Ihme-Zentrums, der monströsen Stadtentwicklungssünde Hannovers und eine der größten deutschen Bauruinen. Natürlich auch in der Hölderlinstraße, wo ein städtisches Beschäftigungsprojekt für Langzeiterwerbslose beheimatet ist.

Ob so ein Gedicht Trost in trüben Tagen spendet, ermuntert, aufheitert oder einen vollends in die Tristesse des aktuellen Krisenmodus zieht, können Entdecker dieser poetischen Partisanenaktion nun selbst erkunden. Rechtzeitig vor Kontaktsperren, Hausarrest und all den Stilllegungen wurden die holden Zeilen auch auf Postkarten gedruckt und in Kultureinrichtungen, Kneipen und auf Parkbänken verteilt. Höhepunkt der auf den Ehrentag hinweisenden Aktionen der Schuppen-68-Aktivisten: Ein Ausdruck des 14-Zeilers wurde in Wasser tiefgefroren – die Eisblöcke dann vor Kirchen, dem Rat- und auch Gewerkschaftshaus platziert, auf dass Hölderlin vom Eise befreit so nach und nach zu Wort kommt

Warum Hölderlin? Seine Lyrik sei einzigartig im deutschen Sprachraum, meint Gleitze, „rauschhaft, hymnisch, empfindsam, voll überwältigender Bilder, mitunter rätselhaft, suchend“. Anders als seine Zeitgenossen, „der gravitätische Großreime-Macher Johann Wolfgang von Goethe oder der spießige Schlichtvers-Schmieder Friedrich Fest-gemauert-in-der-Erden Schiller“, habe Hölderlin zu Lebzeiten nicht die Anerkennung gefunden, die er verdient gehabt hätte. „Seine Philosophie der Einheit von Mensch und Natur ist im Zeitalter ökologischer Katastrophen aktueller denn je.“

Und welche Hölderlin-Formulierung passt zur Corona-Zeit? In Gleitzes Blog findet sich der Hinweis auf das Gedicht „Patmos“, in dem es heißt: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“