: Blick über den Rahmen hinaus
In Corona-Zeiten einfach im Internet ein Museum oder eine Ausstellung besuchen: Das ist mal eher amüsant, mal enttäuschend. Bleibt der Blick in den klassischen Ausstellungskatalog. Und da lassen sich Hinweise entdecken, wie man nicht nur in Krisen forschend eine andere Form von Bildern findet
Von Bettina Maria Brosowsky
Ab 1947 konzipierte der französische Tausendsassa, Schriftsteller und zeitweilige Kulturpolitiker André Malraux (1901–1976) seine zentralen Überlegungen zu einem „musée imaginaire“, einem imaginären Museum, das sich allein auf Abbildungen stützen sollte. Malraux war fasziniert von den damals neuartigen fotografischen und drucktechnischen Reproduktionsmöglichkeiten, die es erlaubten, Artefakte der Museen, aber auch außereuropäische oder prähistorische Kulturen sogar in Farbwiedergaben zu erfassen, zu systematisieren und vergleichend gegenüberzustellen. Zwischen 1952 und 1954 legte er Bildbände zur weltweiten Skulptur vor. 1954 posierte er, ganz Kulturmensch an einen Doppelflügel gelehnt, für eine Titelstory in der Paris Match inmitten auf dem Fußboden ausgelegter Doppelseiten einer seiner Bildbände.
Kompetente Kunstbetrachtung
Neben publicitysuchender Eitelkeit trieb Malraux aber ein nicht zu unterschätzendes Motiv an: Er unterwarf die Kunst qua Reproduktion einem „Intellektualisierungsprozess“, wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Denn an die Stelle des stimmungsgeleitenden Versenkens in das Original tritt die abgeklärte, kompetente Kunstbetrachtung, zudem wird die Autonomie der Kunst durch ihre nicht mehr statische und exklusive Ortsgebundenheit an Architekturen oder in Museen weiter in ihren eigenen Maßstäben und Idealen geschärft.
Man sollte also meinen, dass diese frühen Ideen aus analogen Zeiten begeistert von Akteuren des Internet aufgenommen wurden, wir also mittlerweile durch fachkundig kommentierte Bilddatenbanken eines „Weltmuseums“ streifen könnten, oder, in Zeiten des Corona-Shutdown, auch nur weltweit Museen über gut kontextualisierte Präsentationen ihrer Schätze sowie per Videorundgang besuchen könnten.
Leider ist dem nicht so. Google Arts & Culture (artsandculture.google.com) etwa hält einen amüsanten Gemischtwarenladen vor: Es geht per leider fehlerträchtigem 360-Grad-Video durch die Hamburger Elbphilharmonie, man kann sich unter „Speicherstadt digital“ auf die Spuren von Störtebekers Schatz begeben oder durch eine Online-Ausstellung von Paula Modersohn-Becker der Kunsthalle Bremen rollen.
Dilettantische Kunstdarbietung
In Braunschweig bietet sich das Herzog-Anton-Ulrich-Museum mit einigen seiner Meisterwerke an. Zu Rembrandts Familienbild lässt sich sein zeitgleich entstandenes Gemälde „Isaac und Rebecca“ aus dem Amsterdamer Rijksmuseum laden, „Das Mädchen mit dem Weinglas“ von Jan Vermeer vermisst dann aber sein etwas früher entstandenes Gegenstück, „Das Glas Wein“ aus der Berliner Gemäldegalerie am Kulturforum Potsdamer Platz.
Absolut enttäuschend hingegen ist die digitale Kunsthalle des ZDF (digitalekunsthalle.zdf.de): In dilettantischster Animation werden derzeit etwa eine Beethoven-Ausstellung der Bundeskunsthalle Bonn, eine Rembrandt-Schau im Kölner Walraff-Museum und Werke Felix Nussbaums aus ihrem Osnabrücker Stammhaus massakriert, anders kann man es nicht bezeichnen.
Bleibt also selbst fast 75 Jahre nach den Ideen eines André Malraux nach wie vor nur der klassische Ausstellungskatalog, wenn Museen geschlossen sind? Zum Glück gibt es ihn immer noch und wohl in so fundierter und anregender Qualität wie selten zuvor.
Das trifft auch für die Publikation zur Ausstellung der vier Fotograf*innen Christian Kasners, Jiwon Kim, Jens Klein und Joscha Steffens zu, die eigentlich am 20. März im Braunschweiger Museum für Photographie eröffnen sollte. Die vier zwischen 1970 und 1983 Geborenen sind Träger*innen der 12. Förderpreise der Dokumentarfotografie. Der Preis, seit 1994 im Zweijahresturnus von der Wüstenrot-Stiftung zusammen mit der fotografischen Sammlung des Folkwang-Museums Essen organisiert, ist fester Bestandteil im Stipendienprogramm für Absolvent*innen einschlägiger Disziplinen an deutschen Hochschulen und Akademien. Er umfasst die finanzielle Förderung eines vorgeschlagenen Projektes, das sich mit Themen der realen Lebenswelt beschäftigt und mit zeitgenössischen Mitteln die Definition des Abbildungscharakters der Fotografie reflektiert, so die Ausschreibung.
Erst im Nachgang wird ein Tenor oder eine Gemeinsamkeit unter den vier fertiggestellten Arbeiten herausdestilliert, diesmal ist es der unentschiedene Zustand, englisch: in limbo, die Fotografie befindet sich also in einer (hoffentlich produktiven) Schwebe. Denn es stellt sich ja die grundsätzliche Frage, was Fotografie heute eigentlich noch „dokumentieren“ soll, wenn weltweite Krisen wie der momentan in Vergessenheit geratene Klimawandel sich der klassischen instrumentellen Aufzeichnung entziehen?
Boaz Levin, israelischer Künstler, Forscher und Kurator, plädiert in seinem Katalogessay für eine Erweiterung des fotografischen Denkens, für einen über das Beobachtbare hinausgehenden aktuellen Realismus. Dafür hat er gleich einen neuen Begriff parat: das „Proxymentarische“, abgeleitet aus dem Begriff „Proxy“, den man gemeinhin im Kontext anonymisierender Kommunikationsschnittstellen im Internet kennt.
Proxymentarische Kunstfotografie
In der Klimaforschung etwa bezeichnet der Proxy einen Stellvertreter, der indirekt zu ermittelnde Daten liefert, das wären etwa Bohrkerne des Polareises, Baumringe oder Korallenriffs. Daran ermittelte Befunde entziehen sich objektiver Eindeutigkeit, sie sind provisorisches Näherungs- oder Halbwissen, eingebunden in ein Denken in größerem Zusammenhang, in eine „Poetik von Netzwerken und Wechselbeziehungen“, so Levin.
Könnten der Fotografie nun detektivische, prognostische bis aktivistische Aufgaben zufallen, somit neue Formen einer Wahrnehmung jenseits ihrer apparativen Repräsentation des augenfällig Vorhandenen? Und damit Fotograf*innen, die forschend, experimentierend, rekonstruierend, spekulierend arbeiten wollen? Wie könnten dann Themen, Methoden oder Bildergebnisse ausfallen? Wer will, mag den 12. Jahrgang des Förderpreises nun auf diese Kriterien und erste Ideen abklopfen, bis auf Weiteres per Katalog.
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